Die Spur der verlorenen Kinder
klopfte, stellten sie fest, dass Wheaton verschwunden war.
Der Polizeibericht und die anschließende Ermittlung verrieten Sheppard nicht viel. Der Detective, der den Fall in den folgenden zwei Jahren bearbeitete, war gründlich gewesen. Er folgte jeder Spur, egal, wie trivial sie wirken mochte, und arbeitete sich mit der Nase eines Bluthundes durch Wheatons Leben. 1996 erlitt der Detective einen Herzinfarkt und war gezwungen, in Rente zu gehen. Man hatte die Akte zu den ungelösten Fällen gelegt.
»Frühstück«, sagte Nadine und stellte eine dampfende Tasse Café con leche, einen Teller mit Käse- Arepas und vegetarischen Würstchen, einige leere Teller mit Besteck auf den Tisch. Sie zog sich einen Stuhl hervor, Goot einen zweiten, und niemand erwähnte auch nur, dass sie Sheppard zuvor links liegen gelassen hatten. Er bezweifelte, dass es ihnen überhaupt bewusst war.
»Irgendetwas Nützliches auf der CD?«, fragte Goot.
»Ja, eine ganze Menge.« Aber bevor er sich damit beschäftigte, rief er ein Bild von Wheaton auf und drehte den Laptop in Nadines Richtung. »Kannst du etwas über diesen Mann wahrnehmen, Nadine?«
Sie beugte sich auf den Bildschirm zu, runzelte die Stirn, dann senkte sie langsam ihre Gabel auf den Teller. Sie legte je eine Hand seitlich gegen den Bildschirm des Laptops und starrte das Bild an. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme verkrampft. »Das ist der Mann, den ich gesehen habe, als ich … als ich die Kühlbox berührte. Ich hätte ihn dir nicht so genau beschreiben können, Shep, aber das ist er. Das ist der Mann, der Annie mitgenommen hat.«
Sechs
Mira fühlte einen leichten Druck, der sich von ihrem Nabel bis zur Brust ausweitete, eine sanfte Berührung an ihrer Unterlippe, dann schrillte ein greller Pfeifton in ihren Ohren. Sie riss die Augen auf, und ihr Kopf zuckte hoch. Ein kleiner grüner Vogel mit einem blauen Kamm spazierte auf ihrer Brust herum. Er neigte den Kopf zur Seite, betrachtete sie mit wunderbar bernsteinfarbenen Augen und stieß aus der Tiefe des Halses ein eigenartiges Trillern hervor.
»Wer bist du?«, krächzte Mira.
»Hallo«, sagte der Vogel mit der brüchigen Stimme einer alten Frau.
»Du bist ein Weddellsittich.«
»Dusty, Dusty«, sagte der Vogel, flatterte dann auf und landete rechts von ihr im Sand.
Sie stemmte sich auf die Ellenbogen und kniff die Augen im grellen Sonnenlicht zusammen, der Himmel war endlos blau, sie sah nichts außer Sand und Wasser um sich herum. Es war Ebbe, und ihr schmales Boot lag etwa zweihundert Meter weiter den Strand hinunter. Sie setzte sich ganz auf, fand ihren Rucksack neben sich, zog ihn in ihren Schoß. Drückte ihn an sich. Wo zum Teufel bin ich? Ist das Tango?
Sie streckte ihre Beine, spürte den Sand, der in ihren Kniekehlen klebte, an ihren Waden, ihren Knöcheln. Sie hatte Sand im Haar, an der Wange, den Waden. Annie, mein Gott, Annie. Stunden waren vergangen. Eine ganze Nacht. Wie spät war es? Ihre Uhr war um 20:38 stehengeblieben, und in der Nähe gab es weder einen Baum noch einen Busch, nichts, was einen Schatten warf, der auch nur einen Hinweis auf die Uhrzeit geben würde. Der Strand war vollkommen leer.
»Dusty«, quäkte der Sittich.
»Wasser«, quäkte Mira zurück. Sie öffnete ihren Rucksack und zog eine der Wasserflaschen heraus, die sie eingepackt hatte, bevor sie letzte Nacht Little Horse auf der Suche nach Annie verlassen hatte. Das Wasser war warm, beruhigte aber ihren trockenen Hals. Der Vogel kam angewatschelt, sprang auf ihr Bein und versuchte, den Aufkleber von der Wasserflasche abzureißen. Mira kippte Wasser in den Schraubverschluss und hielt ihn Dusty hin. »Du bist bestimmt auch durstig.«
Dusty nahm kleine, vorsichtige Schlucke, bis das Wasser alle war. Mira goss noch etwas Wasser in den Verschluss, stellte ihn in den Sand, klemmte sich die Flasche zwischen die Beine. Sie griff erneut in ihren Rucksack, sie suchte nach etwas zu essen. Sie musste etwas essen, bevor sie sich bewegen konnte, bevor sie denken konnte. Sie fand ein Päckchen Cracker, einen Apfel, eines von Annies T-Shirts. Tränen traten ihr in die Augen.
Hör auf damit, so findest du sie auch nicht. Du musst weitersuchen, schon vergessen?
Sie rieb sich mit dem T-Shirt über das Gesicht, sie entfernte Sand und Salz, dann legte sie es auf ihren Rucksack und riss das Päckchen mit Erdnussbutter-Crackern auf. Sie brach einen durch und streckte ihn dem Vogel hin. Dusty nahm ihn, hielt ihn mit einem Fuß und
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