Die Spur der verlorenen Kinder
Außenseiter nicht eindringen konnten, nicht einmal Sheppard. Ganz egal, dass er die Sprache genauso gut beherrschte wie sie, dass er jedes südamerikanische Land außer Brasilien bereist hatte, dass seine Leidenschaften in viel engerer Verbindung standen mit der hispanischen Welt als mit der Gringo-Welt. Nichts davon zählte, denn seine Eltern waren Gringos, die zufällig in Venezuela gelebt hatten, als er auf die Welt gekommen war. Er war, wie Nadine einmal bemerkt hatte, ein versehentlicher Latino. Für Sheppard bedeutete das, dass er in ihren Augen niemals dem Vergleich standhalten würde mit Miras Ehemann, einem echten Kubaner aus Havanna, einem der zahlreichen Flüchtlinge, die 1959 in die USA gekommen waren.
Er wusste das alles natürlich schon lange, doch das Gefühl gerade jetzt bestätigte nur seine Vermutung, dass Mira ihn nicht heiratete, weil es ihr genauso ging. Warum bist du bei der Polizei?, hatte sie ihn einmal gefragt. Warum arbeitest du nicht stattdessen als Anwalt?
Ich habe mich wie eine Prostituierte gefühlt, als ich als Anwalt tätig war.
Aber du musstest als Anwalt keine Pistole tragen.
Die Pistole, dachte er. Ein Teil war auch die Tatsache, dass er eine Waffe trug, und sie es hasste. Wenn du eine Waffe trägst, ziehst du Umstände an, in denen du sie einsetzen musst.
Dass sie ihn ausschlossen, nervte ihn, machte ihn traurig, ärgerte ihn auf eine derart lächerlich übertriebene Art, dass er sich plötzlich von ihnen entfernen musste; er ging hinüber an einen der Tische, auf dem er seinen Laptop aufstellen konnte.
Lass sie doch ihren kubanischen Tanz aufführen, dachte er und schob die CD, die Tina Richmond ihnen gegeben hatte, in seinen Computer, dann begann er zu lesen.
1994 war Patrick Wheaton ein einundvierzigjähriger Meeresbiologe gewesen, der im Tango Marine Lab außerhalb von Pirate’s Cove arbeitete, dem Ort am Nordende der Insel. Er war dort seit neun Jahren tätig und leitete das Labor für wissenschaftliche Analysen. Er war außerdem ein angesehener Experte für Lederschildkröten und Delfine, und jeden Sommer seit neun Jahren hatte er ein Teenagercamp über Meeresbiologie abgehalten.
Er war seit zehn Jahren mit einer Frau aus einer sehr reichen Familie auf Key West verheiratet. Sie hatten keine Kinder, und laut Wheatons Kollegen auch nicht viel gemeinsam, es war also für niemanden eine Überraschung, als die Ehe sich aufzulösen begann.
Anfang 1994 bildete sich ein Feld schwarzen Wassers vor der Küste von Big Pine Key, und Wheaton und etliche seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter verbrachten Stunden in dem Feld. Sie nahmen Proben des Wassers, des Planktons, der Meereslebewesen und suchten Antworten darauf, was es mit diesem Feld auf sich hatte. Damals wie jetzt waren Dutzende von Meeresbiologen aus dem ganzen Land auf die Key-Inseln gekommen, um das Wasser zu untersuchen, und damals wie jetzt wusste niemand, was los war, doch jeder hatte eine Theorie.
Im März 1994 war Wheaton spät nachts hinausgefahren, um Proben zu nehmen, aber nicht zurückgekehrt. Man verständigte die Polizei vor Ort, und innerhalb von vierundzwanzig Stunden begann die Suche. Man fand keine Spur seines Boots, keine Trümmer, nichts. Es schien, als wäre er – wie Mira und Annie, dachte Sheppard – vom Erdboden verschwunden.
Eine Woche später tauchte er wieder auf. Er behauptete, während er einem Schwarm Delfine folgte, wäre sein Motor ausgegangen, sein Funkgerät gestört gewesen und er wäre mehrere Tage im Golf von Mexiko umhergetrieben, krank und nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Schließlich aber ging es ihm wieder besser, er konnte den Motor reparieren und wieder ein Ufer ansteuern. Mittlerweile befand er sich an der nordwestlichen Küste Floridas. Er ließ das Boot in einem Hafen von Cedar Key zurück, mietete einen Wagen und fuhr nach Tango. Dieser Teil seiner Geschichte wurde überprüft und stimmte.
Danach allerdings litt seine Arbeit. Er begann, sich häufiger krank zu melden. Im April hatte sein Vorgesetzter ihn abgemahnt, er war zu Hause ausgezogen, und seine Frau hatte die Scheidung eingereicht. Am 14. Mai stellte seine Frau offensichtlich einen größeren Fehlbetrag auf ihren Bankkonten fest und wandte sich an ihren Buchhalter. Zwei Tage später wurde Anklage gegen Wheaton wegen schweren Diebstahls erhoben; seine Frau behauptete, er habe in den letzten drei Monaten eine halbe Million Dollar von ihren Konten abgezweigt. Doch als die Polizei an Wheatons Wohnungstür
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