Die Spur der verlorenen Kinder
betrachtete Mira. Der Vogel war offensichtlich ein Haustier gewesen und irgendjemandem davongeflogen. Seine Situation spiegelte ihre eigene perfekt wider – Hunger, Durst, Ratlosigkeit.
Mira biss ein großes Stück Apfel ab und legte es für den Vogel in die Verschlusskappe mit dem Wasser, dann aß sie den Rest hastig selbst. Es half. Es half deutlich. Sie trank noch etwas Wasser, aß noch zwei Kekse, teilte den Rest mit dem Vogel, dann griff sie wieder nach Annies T-Shirt und presste es an ihre Wange.
Der bekannte Duft des Waschmittels der Marke »Surf« und ein leichter Hauch von »Dove«-Seife umschmeichelte ihre Sinne. Sie begann anders zu atmen, sie verlangsamte und vertiefte ihren Atem und erlaubte es sich, in den bekannten Raum zwischen zwei Gedanken einzutreten, diesen zeitlosen Ort, an dem sie so viel Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Sie war sich nur noch vage der Hitze um sie herum bewusst, des Sandes, der immer heißer wurde, des zwitschernden und knabbernden Vogels, der sich neben ihr sehr wohl zu fühlen schien.
Und plötzlich verschwand alles außer den Gerüchen, und sie versank im olfaktorischen Strom aus Waschmittel und Seife. Bilder drangen an die Oberfläche, kurze Blitzlichter eines Zimmers, Zehen schauten unter einem Laken oder einer Decke hervor. Dann verblassten diese Bilder.
Mehr, gib mir mehr, flehte sie und drückte das T-Shirt an ihre Brust, ihren Herzschlag, Blut zu Blut, Mutter zu Tochter, eine Verbindung, die nichts und niemand zerbrechen konnte. Aber ihr war klar, was immer sie gesehen hatte, hatte vermutlich mit ihrer Vergangenheit zu tun. Und jetzt spürte sie nichts mehr, keine Hinweise, keine Verbindung.
Das ist nicht gut, dachte sie. Gar nicht gut. Ihr eigenes Unwohlsein, das scharfe Stechen in ihrer Seite, die Prellungen und Zerrungen, die sie jetzt zu spüren begann, alles lenkte sie ab. Sie brauchte Nadine, Sheppards professionelle Hilfe.
Sie stopfte das T-Shirt zurück in ihren Rucksack und wühlte darin herum, sie suchte nach etwas anderem, das Annie gehörte.
Eine Shorts, Sandalen, die Wechselkleidung, die Annie immer mit zum Strand nahm. Aber Stoff war kein guter Leiter für geistige Energien. Sie brauchte etwas aus Plastik oder Metall, Annies Uhr oder den Ring, den Nadine ihr geschenkt hatte, oder das Friedenszeichen, das sie um den Hals trug. Oder die leere Flasche, die der Mann in der Hand gehabt hatte. Lag die noch im Boot, oder hatte sie sie letzte Nacht verloren, als …
Was ist dort draußen in der Dunkelheit mit mir geschehen?
Dieser Gedanke löschte alles andere aus und erfüllte sie mit einem so grundlegenden Schrecken, dass sie für einen Augenblick bloß in der heißen Sonne saß, die Arme unter den Beinen verschränkt, das Kinn auf die Knie gedrückt, und versuchte, sich zu erinnern, zurückzudenken. Das Boot. Der Motor ging aus. Die eigenartigen Koordinaten, dann ging der Motor wieder an. Die drückende Luft. Die Schwärze. Und jetzt war sie hier, Stunden später, an einem verlassenen Strand. Sie hatte keine Ahnung, wo zum Teufel sie war – Tango? Key West? Big Pine? Wie weit war sie letzte Nacht abgetrieben? Guter Gott, konnte sie auf Kuba sein?
Hundertfünfzig Kilometer? Auf keinen Fall. Nicht in einem kleinen Boot in einer einzigen Nacht.
Sie presste ihre Fäuste auf die Augen und zwang sich, ruhig zu bleiben, zu atmen, ganz egal, was jetzt los war. Scheiß auf den Atem. Es ist der Hammer.
Okay. Sie würde jetzt aufstehen. Sie würde rüber zum Boot gehen und es den Strand hochziehen, wo die Flut es nicht mit sich reißen konnte. Wenn die Flasche noch darin lag, würde sie die lesen, sie würde ihr entreißen, was eben ging, und dann würde sie losmarschieren. Durch den Sand, über die mit Strandhafer bewachsene Düne, zur Straße dahinter. Dort gab es bestimmt eine Straße. Ganz sicher. Das hier war Tango Key, es fühlte sich an wie Tango – aber ein bisschen anders, etwas stimmte nicht ganz.
Die Sonne. Okay, die Sonne war hinter ihr, und der Schatten, den ihre Hand warf, wenn sie sie aufrecht hielt, war kurz, wie abgeschnitten. Sie schätzte, dass es Morgen war, und dass sie sich entweder an der West- oder Südwestseite von Tango Key befand. Was hieß, wenn sie über die Dünen ging und eine Straße fand, musste sie sich nach rechts wenden, um in den Ort Tango zu gelangen, wo sich ihr Buchladen befand. Und lange bevor sie die Ortschaft erreichte, würde sie eine Telefonzelle finden.
Sie grub wieder in ihrem Rucksack, fand ihre
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