Die Spur der verlorenen Kinder
jünger oder älter waren. Andererseits, wenn sie überlebte, würde er keine weiteren Kinder mehr benötigen.
Als Rusty überlebt hatte, glaubte Wheaton, er brauche keine weiteren Kinder. Aber er hatte sich an Rusty gewöhnt. Ihm war klar geworden, wie sehr er es genoss, ein Kind im Haus zu haben, und so hatte seine Suche von vorn begonnen. Aber bei Annie würde es nicht so sein. Diesmal blieb nicht genug Zeit, sich an sie zu gewöhnen.
Die Pinien standen dichter, und die Zweige brachen das Morgenlicht, sie warfen Mosaikschatten auf das Bett aus Nadeln, das seine Schritte dämpfte. Dreihundert Meter weiter erreichte er den Schuppen. Es war kein normaler Schuppen. Das Baby war nicht aus Wellblech oder Metall. Das Gebäude war ein Betonblock mit etwa fünfundfünfzig Quadratmetern Wohnraum. Es hatte sich auf dem Grundstück befunden, als Wheaton das Land gekauft hatte. Es hatte Wirbelstürme und sogar ein Feuer überstanden, das 1942 den größten Teil des Anwesens dem Boden gleichgemacht hatte. Es gab ein kleines Bad mit einer Dusche, außerdem eine einfache Küche.
Über der Tür befand sich eine geschnitzte Lederschildkröte, eine Erinnerung an sein früheres Leben als Meeresbiologe. Er war immer noch diesen Giganten unter den Meeresschildkröten zutiefst zugetan und spazierte im Sommer oft am Strand entlang, wenn sie ans Ufer kamen, um ihre Eier zu legen. Meeresschildkröten waren 1968 noch nicht vom Aussterben bedroht, das würde erst zwei Jahre später der Fall sein. Aber besorgte Biologen hatten bereits begonnen, Schildkrötennester mit Maschendraht zu sichern, um sie vor Menschen zu schützen, was ab Mitte der Siebziger zum Standard werden würde.
Die geschnitzte Schildkröte über der Tür hatte sogar einen Namen, Poseidon, ein Tribut an die immense Größe der Lederschildkröten – sie wiegen bis zu siebenhundert Kilo – ihre weite Verbreitung – vom Atlantik über den Pazifik bis zum Indischen Ozean – und ihre Fähigkeit, bis auf gut 1000 Meter Tiefe zu tauchen. Poseidon war die Lederschildkröte, die ihn 1994 zum Korridor geführt hatte.
Er stellte das Tablett auf den verwitterten Holztisch vor der Tür und löste den Schlüsselbund von seinem Gürtel. Er hatte viele Schlüssel. Er glaubte sehr an Schlösser. Der Schuppen zum Beispiel hatte eine schwere Metalltür mit einem Vorhängeschloss, einem Riegel, den man nur von außen bewegen konnte, und eine Kette. Die Fenster ließen sich nicht öffnen, das Glas war unzerbrechlich. Die Temperatur im Inneren wurde sorgsam von einem Thermostat kontrolliert, der sich in einem verschlossenen Kasten verbarg, und der Strom wurde im Haupthaus ein- und ausgeschaltet. Im Augenblick war die Temperatur auf fünfundzwanzig Grad eingestellt. Wenn Annie die Krankheit mit dem hohen Fieber und dem Schüttelfrost überwunden hätte, würde er die Temperatur so einstellen, wie es ihr am besten gefiel.
Wenn sie ihm wirklich Probleme bereiten würde, wenn ihr Widerstand so schlimm oder schlimmer als bei Rusty ausfiele, würde er den Strom abschalten. Es passte ihm gar nicht, auf solche Tricks zurückzugreifen, aber das hatte auch Rustys Widerstand gebrochen.
Er öffnete das Vorhängeschloss, den vorgelegten Riegel, nahm die Kette ab, ergriff das Tablett, ging hinein. Obwohl er die Tür gleich wieder schloss, wusste er sofort, dass es nicht notwendig war. Annie Morales würde noch eine Weile nicht aufstehen. Sie sah schlimm aus, die Haut aschgrau, die Lippen trocken und aufgeplatzt. Er stellte seine Arzttasche und das Tablett auf den Couchtisch, öffnete die Tür zum Besenschrank, holte einen Wagen mit Reinigungsmitteln heraus. Er öffnete ein Päckchen Latexhandschuhe und zog ein Paar an.
Erst mal die Kotzschüssel.
Er verabscheute die Krankheit und seine Sorge, ob das Kind überleben würde. Eines der Kinder, die er durch den Korridor geholt hatte, hatte innerhalb von zwölf Stunden angefangen, Blut zu spucken, und er hatte Lydia holen müssen, eine schwarze kubanische Heilerin, die ihm geholfen hatte, Rusty zu retten. Aber bei dem Kind, das Blut gespuckt hatte, hatte Lydia ihm gleich gesagt, dass sie nicht glaubte, irgendetwas tun zu können, das Immunsystem des Kindes sei bereits zusammengebrochen. Und obwohl Lydia das Mädchen behandelt hatte, war es nur vierzehn Stunden später gestorben. Wheaton hatte es auf dem Friedhof im Wald begraben, hinter dem Schuppen, bei seinen anderen Misserfolgen.
Hier konnte er allerdings kein Blut in der Kotzschüssel sehen, das
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