Die Spur der verlorenen Kinder
habe. Oben bei dir im Zimmer steht eine Kiste mit Musik, Büchern, Filmen …«
»Ja, habe ich gesehen. Danke. Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie alt sie ist, Pete.«
»Dreizehn.«
»Na ja, sie hat jedenfalls gekotzt. Ich habe ihr eine Schüssel dagelassen.«
»Wie viel hat sie erbrochen?«
»Ich bin nicht geblieben, bis sie fertig war.«
»Der Dreck ist noch da? «
»Das ist dein Problem, nicht meins. Wenn sie kotzen, machst du sauber. Wenn sie sterben, vergräbst du sie. Ich will damit nichts zu tun haben.«
Wheaton zuckte zusammen. Erbrochenes auf dem Boden. Man konnte nicht sagen, welche Mikroben sich jetzt im Schuppen breitmachten.
»Hat sie Fieber?«
»Irre hoch, ich habe ihr zwei Advil gegeben.«
Advil, das es 1968 noch nicht gegeben hatte. Es stammte aus ihrer eigenen Zeit, wie so viele andere Dinge hier im Haus. Er war so damit beschäftigt gewesen, DVDs, CDs, Software, Computerzubehör und alle möglichen anderen Sachen zu kaufen, die das Leben im Jahr 1968 etwas einfacher machten, dass er das Einfachste vergessen hatte: Advil.
»Ich bringe ihr gleich die Suppe.«
»Ja. Wie du willst.« Er begann, sich abzuwenden, dann fragte er: »Und wann nimmst du mich mit durch den Korridor, Pete?«
»Willst du wieder krank werden?«
»Du wirst auch nicht jedes Mal krank.«
»Die Schäden sind nicht sichtbar.« Er war seit seiner ersten Reise steril, seine Lungen waren vernarbt von wiederholten Atemwegsinfektionen, seine Panik vor Keimen hatte nach dem fünften oder sechsten Trip eingesetzt, und mittlerweile gab es ein neues Problem, seinen Gelenkschmerz. Aber es stimmte, dass Rusty nie wieder die Zeitkrankheit haben würde. Man bekam sie nur einmal, wie Windpocken oder Masern, danach war man immun. »Du hast es beim ersten Mal fast nicht geschafft. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn du wieder durch den Korridor gehst.«
»Blödsinn«, murmelte Rusty. »Du traust mir bloß nicht. Du glaubst, ich würde nicht zurückkehren.«
»Das stimmt nicht.«
»Doch.«
»Ich weiß, dass du hier glücklich bist.« Glücklicher jedenfalls, als er bei seiner dysfunktionalen Familie 1997 gewesen war. Glücklicher, weil man sich an fast alles gewöhnen konnte, wenn man sich erst mal mit den Rahmenbedingungen abgefunden hatte. »Du hast hier alles, was du willst.«
Rusty beugte sich vor, die Ellenbogen auf dem Tresen. »Und was ist mit dir, Pete? Hast du hier alles, was du willst?«
»Natürlich.« Außer Evie. Er begann, Suppe für Annie in eine Schüssel zu schöpfen.
»Warum klaust du dann immer noch Kinder aus anderen Zeitzonen und bringst sie hierher? Warum tust du das, Pete?«
Eine Ader pulsierte an Wheatons Schläfe, er legte den Deckel zurück auf den Topf und drehte die Temperatur herunter. Er wollte nicht darüber reden. Nicht jetzt. Eigentlich nie. Aber er wusste, wenn er Rusty keine Antwort gab, die ihn zufriedenstellte, dann würde er weiterfragen, er würde nerven, er würde drängen. »Du brauchst Geschwister.«
»Du bist ein verfickter Lügner.« Rusty richtete sich auf, schüttelte den Kopf und ging davon.
Augenblicke später dröhnte Musik aus seinem Zimmer. Wheaton war erleichtert, das Haus verlassen zu können und sich vom gnadenlosen Dröhnen der Musik zu entfernen. Er nahm seine Arzttasche und ein Tablett mit auf den Weg zum Schuppen. Die Suppe. Cracker. Eine Flasche Gatorade, dank 2003. Im Augenblick war es wichtig, dass Annie glaubte, sie befände sich noch in ihrer eigenen Zeit.
Er hatte sich die ganze Nacht über Sorgen um Annie gemacht und war mehrfach hinüber zum Schuppen gegangen, um nach ihr zu sehen, aber sie hatte nicht so krank gewirkt. Sie hatte ihn angeschrien, ihn verflucht, seine Hilfe abgewehrt. Und das war in Ordnung. Das war ihm lieber als Passivität. Diejenigen, die passiv gewesen waren, die gejammert hatten und nach ihren Mamas weinten, hatten es nicht geschafft. Rusty war sein erfolgreicher Prototyp. Er hatte sich brutal gewehrt – und überlebt. Wheaton empfand bei Annie Hoffnung und Optimismus.
Sie war das fünfte Kind, das er durch den Korridor geholt hatte, und ein Jahr älter als Rusty damals gewesen war. Bislang hatte sie sich besser gehalten als die anderen, aber er wusste, wie hinterhältig die Krankheit sein konnte, wie hinterhältig sie ausharren konnte. Wenn das Mädchen die nächsten achtundvierzig Stunden überlebte, würde das seine Theorie stützen, dass Kinder zu Beginn der Pubertät eine bessere Chance hatten als diejenigen, die
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