Die Spur der verlorenen Kinder
dir war. Sie hat ihn fast zehn Jahre geführt. An deinem dritten Geburtstag ging dein Vater in einen Supermarkt, in dem ein Raubüberfall stattfand. Er wurde erschossen.« Und jetzt lebt er, Annie, er lebt auf Marathon.
»Fünf Jahre später hat deine Mutter übersinnliche Informationen über den Mord an einem prominenten Psychiater wahrgenommen, dessen Mörder sich als derselbe Mann erwies, der deinen Vater getötet hat. Das öffentliche Aufsehen bei diesem Fall brachte deine Familie dazu, Fort Lauderdale zu verlassen …«
»Das steht alles im Internet. In der Zeitung«, blaffte sie. »Ich bin nicht beeindruckt.«
»Du hast gerade die achte Klasse abgeschlossen. Im Herbst gehst du auf die Tango High. Du fährst mit dem Fahrrad zur Schule und wieder nach Hause, es sei denn, deine Mom oder Nadine nehmen dich mit oder manchmal auch der Mann, mit dem deine Mutter ausgeht. Er ist Polizist.«
»Er heißt Shep und ist ein FBI-Agent, und im Augenblick sucht er nach Ihnen, Mister. Also kommen Sie verdammt noch mal zur Sache, okay?«
»Erste Regel. Nicht fluchen. « Er trat an die Wanne, beugte sich vor und packte ihren Kopf mit seinen kräftigen Händen, er starrte ihr genau in die Augen. »Du wirst nicht fluchen in meiner Gegenwart, hast du das verstanden? Wenn du fluchst, wenn du die Regeln brichst, kostet das ein Opfer. So ist das.«
Er konnte sehen, dass er ihr einen Schrecken eingejagt hatte, aber nicht einmal die Angst hielt ihre Wut in Schach.
» Fick dich, fick dich, fick dich! «, kreischte sie.
Und in diesem Augenblick stand Wheaton kurz davor, sie zu schlagen. Stattdessen bewältigte er diesen Drang zur Gewalt, indem er sie von sich stieß und zurücktrat. Er verschränkte die Finger und knackte mit den Knöcheln. »Du glaubst vielleicht, dass deine Mutter die größte Hellseherin seit Nostradamus ist, aber ich habe eine Neuigkeit für dich, Mädchen. Sie wird dich nicht finden, denn wo du bist, ist es unmöglich, dich zu erreichen. Dein Essen steht auf dem Tisch. Einer von uns guckt später nach dir.«
Er knallte die Tür hinter sich zu.
Wenig später hörte er sie leise im Bad weinen und dachte: Gut. Lass es raus. Es wird dir helfen, die Situation zu akzeptieren, und dann können wir dazu kommen, warum du eigentlich hier bist.
Neun
Jakes schwarzer Käfer von 1966 holperte über die unbefestigte Straße, die Reifen ließen Kies hochschießen, der gegen die Kotflügel klackerte. Es war, als wäre man in einer Blechdose unterwegs. Im Radio sang José Feliciano »Light my Fire«. Die Musik klang blechern für Mira, in deren Wagen es einen CD-Spieler und Quad-Sound gab. Ersteres war noch nicht erfunden worden, bei letzterem wusste sie es nicht. Jack fummelte eine Weile am Radio herum und wechselte die Sender, bis er es schließlich ausschaltete. Sie wusste, dass sie etwas zu ihm sagen sollte, sie sollte sich bei ihm für die Mitfahrgelegenheit bedanken, für das Frühstück, das sie weder gegessen noch bezahlt hatte. Aber zu Small Talk war sie nicht mehr in der Lage. Sie war immer noch stumm vor Schreck und sorgte sich, wie sie irgendetwas bezahlen sollte. Ihr Bargeld aus der Zukunft sah aus wie Monopoly-Scheine.
»Es gibt kürzere Wege in den Ort«, sagte Jake.
»Ich muss aber etwas sehen«, gelang es ihr zu sagen. »Es kann nicht viel weiter sein.«
Das helle Licht quälte ihre Augen. Es schmerzte, die Dinge zu genau anzusehen, denn egal, was sie anschaute, sie sah bloß die riesigen Unterschiede. Felder statt Häuser. Keine Einkaufszeilen. Keine Supermärkte. Bisher bloß zwei Tankstellen. Die naturbelassene Üppigkeit dieses kaum bebauten Inselchens um 1968 überwältigte sie.
Dann ging der VW in die entscheidende Kurve, die Kurve, die sie ein für allemal überzeugen würde, dass dies nicht bloß ein Witz war, eine Täuschung, eine neue Realityshow. Die Brücke zwischen Tango Key und dem Rest der Keys war 1985 erbaut worden, ein knapp zwanzig Kilometer langes Wunder der Ingenieurskunst. Zuvor waren Boote, Autofähren und kleine Flugzeuge die einzige Verbindung von Tango Key zum Rest der Inselkette gewesen.
»Noch weiter?«, fragte er.
Sie nickte und beugte sich vor. Sie musste es sehen.
Jetzt, links, erblickte sie durch eine Reihe Banyan-Bäume und Pinien das Wasser. Die Florida Bay. Die Brücke war nicht weit, dachte sie, als die Straße gerade wurde.
Sie ließen die Bäume hinter sich. Mira hatte nicht realisiert, dass sie den Atem angehalten hatte, bis sie die gähnende Leere zwischen der
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