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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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sage?«
    »Ja.« Hatte sie das gesagt oder es sich bloß eingebildet? Vielleicht träumte sie, vielleicht war es alles ein Traum. »Träume ich?«
    »Du träumst im Wachen, meine Kleine.«
    »Lass mich nicht allein, bitte.«
    »Ich habe die ganze Nacht, mi amor. «
    Spanisch, diese Frau sprach Spanisch, genau wie ihre Mom. Wie ihr Vater es getan hatte. Wie Nadine.
    »Nimm noch einen Schluck davon und dann versuch zu schlafen«, sagte die Traumstimme.
    Annie nippte, dann legte die Frau ihre Hand auf Annies Stirn und schob sie herunter über ihre Augen, sie schloss ihre Lider.
    »Ich gehe jetzt«, sagte Annie und ging, sie spazierte durchs Zimmer wie eine Brise.
    Der Hund sah sie und trottete hinter ihr her, quer durch den Raum bis zu den Fenstern, der Tür. Annie drückte ihre Hände gegen die Tür und befand sich plötzlich auf der anderen Seite, der Hund bellte im Zimmer hinter ihr. Annie wandte sich um und steckte ihren Kopf durch die Tür und sah die Frau – Lydia – die Tür anstarren. »Was ist, Sunny?«, fragte Lydia und erhob sich vom Sofa.
    Sunny bellte wieder, und Lydia eilte hinüber zur Tür, öffnete sie, schaute hinaus. »Hier ist nichts, Mädchen. Bloß die Dunkelheit, die Bäume.«
    Und ich!, rief Annie. Die Frau schien sie nicht zu hören, der Hund aber schon. Sunny bellte und sprang hoch, und ihre Pfoten fuhren durch Annie hindurch. Es fühlte sich merkwürdig an, als wäre gerade ein warmer Windhauch durch sie gefahren.
    »Ihr Geist geht umher, nicht wahr, Sunny?«, sagte Lydia.
    Ein Geist? Ich bin kein Geist. Ich bin am Leben, ich gehe, atme …
    Sie wollte sich den Wald ansehen, sie wollte herausfinden, wo sie war, und plötzlich stand sie mitten drin, mitten in der Dunkelheit. Sie hörte, wie die Wellen sich brachen, sie sah die Sterne, den einsamen Mond. Eulen heulten, Heuschrecken zirpten, das gefiel ihr gar nicht, sie wollte Licht, Sicherheit, sie wollte ihre Mom.
    Sie spürte einen scharfen Zug in ihrem Hinterkopf und flog abrupt zurück in Fieber, Schmerz, Entsetzen.
    »Schlaf, meine Kleine«, flüsterte die Frau.

2
    Ihr Fieber sank gegen vier am Morgen, Schweiß floss ihr aus den Poren, der Gestank ihrer Krankheit erfüllte das Zimmer.
    Lydia holte eine große Metallschüssel mit warmem Wasser und wischte dem Mädchen das Gesicht, die Arme und Beine und Füße. Sie zog ihr die verschmutzten Sachen aus und kleidete sie in ein sauberes T-Shirt und weiche Leinenshorts, dann hob sie ihren Kopf und bürstete ihr feuchtes Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz. Sie bedeckte Annie mit einem sauberen Laken und ging in die Küche, um noch etwas Zauberei vorzubereiten, ein Rezept, das ihre Großmutter ihr in den letzten Monaten ihres Lebens beigebracht hatte.
    La penúltima brujería, hatte ihre Großmutter es genannt. Die vorletzte Hexerei. Früher oder später hatte jede Seele auf ihrer Reise durch das körperliche Leben diesen kritischen Punkt erreicht, an dem es darum ging, den Körper loszulassen – oder weiter im weltlichen Leben zu verbleiben. Diese spirituelle Essenz half, Körper und Geist zu verbinden und diese kritische Entscheidung zu treffen. Sie hatte sie bei Rusty angewandt, und er hatte überlebt. Sie hatte sie Becky Sawyer gegeben, die war gestorben. Antonio Pantello war ebenfalls gestorben, ebenso der Junge aus Miami. In jedem Fall entschied die Seele. Wenn die Seele sich für das Leben entschied, wie Rustys Seele es getan hatte, dann nutzte der Körper diesen Trank, um den Vorteil zu erlangen, den er brauchte, um die Zeitkrankheit zu besiegen.
    Die Geschichte dieses Gebräus reichte Jahrhunderte zurück, vielleicht sogar Tausende von Jahren, bis nach Nigeria, wo Lydias Vorfahren geboren worden waren. Sie tat nicht einmal so, als wüsste sie, wie es funktionierte; sie wusste nur, dass sie dem Verlangen der Seele folgte. Und in einem Kampf wie diesem, dachte sie, konnte es der entscheidende Unterschied zwischen Leben und Tod sein.
    Das Rezept war aufwendig, aber nie aufgeschrieben worden. Ihre Großmutter hatte es ihr Wort für Wort vorgetragen, genau wie ihre Großmutter es zuvor getan hatte, und so weiter, durch die Jahrhunderte. Einige der Zutaten gab es nur in Afrika, und Lydia bezog sie zu Mordspreisen in einem Spezialitätenladen in Miami. Andere Zutaten gab es überall, manche baute sie selbst an.
    Das unausgesprochene Gesetz in ihrer Familie lautete, dass das Rezept und seine Anwendung an das erstgeborene Mädchen jeder Generation weitergegeben wurde, aber Lydia hatte keine

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