Die Spur der verlorenen Kinder
verband. Aber abgesehen von der Tatsache, dass sie alle auf den Keys gelebt hatten, gab es keine offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Unterschiedliche Altersgruppen, unterschiedliche Rassen, unterschiedliche Geschlechter. Gestern aber hatte er von einem fünften Entführungsfall gehört, Morgan Washington, ein afroamerikanisches Kind aus Miami, das vor zwei Jahren verschwunden war. Er hatte den ermittelnden Fahnder angerufen und erfahren, dass man zwar keinen mit Chloroform getränkten Lappen gefunden hatte, die grundsätzliche Vorgehensweise aber zu den anderen Fällen passte.
Rusty Everett, zwölf, dunkelhaarig, Marathon. Verschwunden 1997. Lebte mit seiner dysfunktionalen Familie in einem Wohnwagenpark, ein alkoholsüchtiger Vater und eine manisch-depressive Mutter, dazu zwei jüngere Geschwister. Das Jugendamt war regelmäßig zu Besuch gewesen. Er war auf dem Rückweg von der Mittelschule entführt worden. Den Lappen hatte man einen Tag später in den Büschen gefunden, lange nachdem das Chloroform verdunstet war, doch die Spurensicherung hatte ein Wunder vollbracht und nachweisen können, welche Substanz sich auf dem Stoff befunden hatte.
Becky Sawyer, elf, Key Largo. Entführt 1999, während sie ganz in der Nähe ihres Zuhauses spielte. Keine Zeugen. Arbeiterviertel. Ihr Vater war Prediger in der Kirche um die Ecke, ihre Mutter Hausfrau und Sonntagsschullehrerin, beide waren geradezu fanatische Christen. Vier weitere Kinder im Haushalt. Laut Aussagen der Nachbarn und Beobachtungen des Kriminalbeamten, der den Fall ursprünglich untersuchte, führten die Sawyers ein sehr strenges, harsches Regiment. Becky hatte nur wenige Freunde und noch weniger Freiheiten.
Antonio Pantello, neun. Lebte auf Tango Key, wurde aber vor sechs Wochen auf Sugarloaf Key entführt, während er am Strand eines Anwesens spielte, wo seine kubanische Mutter als Hausmädchen arbeitete. Sein mexikanischer Vater, ein selbstständiger Mechaniker, hatte eine Hypothek auf sein Geschäft aufgenommen, um eine Belohnung anzubieten, die der Arbeitgeber der Mutter verdoppelt hatte. Es gab drei weitere Geschwister in der Familie, alle jünger.
Die Familie Pantello war in mancher Hinsicht ungewöhnlich. Obwohl es sich um strenggläubige Katholiken handelte, praktizierte die Mutter zugleich Santeria, und sie kannte Goots Großmutter, ebenfalls eine Santera. Bei einem von Sheppards ersten Gesprächen mit der Familie hatte er einen Altar im Wohnzimmer bemerkt, wo man frischen Honig und Süßigkeiten als Opfer für einen der Heiligen hinterlassen hatte in der Hoffnung, dass der Heilige in die Angelegenheiten der Menschen eingriff und Antonio nach Hause brachte.
» Eleggua? «, hatte er die Mutter gefragt.
Sie hatte ihn eigenartig angesehen, sie war überrascht, dass ein amerikanischer Polizist sich genug auskannte, um einen der Heiligen in dem großen Pantheon zu benennen, das sie verehrte, und hatte schließlich genickt. Dann sprach sie in der alten Sprache der Santeria mit ihm, dem Yoruba-Dialekt aus dem Herzen Afrikas, wo die Santeria entstanden war, und er hatte im selben Dialekt geantwortet, er stammelte die paar Worte, die er kannte. Die Mutter hatte zu weinen begonnen und ihn dann mitgenommen in ihre Hütte hinter dem Haus, wo sie ihre Zauberei vollführte.
Und dort hatte sie in ihren Karten gelesen, sie sagte ihm Dinge über sein Leben, die sie unmöglich hatte wissen können. Sie hatte seine Aura mit Rauch und Zauberschwüren gereinigt, und als sie fertig war, hatte er das Gefühl gehabt, als wäre er gerade ins tiefste Herz der Menschheit gereist.
»Wenn Sie all das können«, sagte er zu ihr, »dann können sie doch sicher auch sehen, wo Ihr Sohn ist.«
»Er ist tot«, hatte sie geflüstert und zu weinen begonnen. »Er ist begraben auf einem Hügel über dem Meer. Sein Geist kommt zu mir, aber ich kann seine Stimme nicht hören. Der Mann, der ihn genommen hat, stammt aus dieser Zeit und doch nicht aus dieser Zeit, er wird getrieben von Dingen, die wir nicht verstehen können. Mehr als das weiß ich nicht.«
Morgan Washington, neun, Miami. Entführt im März 2001, als er mit seinem Fahrrad zum Haus eines Freundes unterwegs war. Laut der Angaben des Ermittlers in Miami verfügte auch Familie Washington über ihre eigenen dysfunktionalen Merkmale. Washingtons Mutter war alleinerziehend mit vier Kindern, alle von verschiedenen Vätern. Solange der Junge auf der Welt war, hatte sie meistens von Sozialhilfe gelebt. Sein Vater
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