Die Spur der verlorenen Kinder
bedeutete ihr, sich zu beeilen. »Komm schnell. Mein Wagen steht da drüben.«
Annie lief auf ihn zu, sie weinte beinahe vor Erleichterung, und Rusty nahm sie am Arm und zog sie durch den Wald, tiefer zwischen die Bäume, sie gingen jetzt in die entgegengesetzte Richtung. »Wir haben nicht viel Zeit. Er wird bald ausbrechen. Ich fahre dich in die Stadt, dann musst du untertauchen.«
»Was … warum tut er das?«
»Er ist krank. Die ganzen Reisen durch den Korridor haben ihm den Kopf verdreht. Er sieht sich selbst als Lebensretter, er glaubt, er würde uns retten. Aber da ist noch etwas anderes, ich weiß nur noch nicht, was.«
Korridor. Er hatte viel von einem Korridor gesprochen, als sie krank war. Oder irgendjemand. Brad Pitt, dachte sie. »Was für ein Korridor? Wovon redest du?«
Der Ausdruck auf seinem Gesicht ängstigte sie. »Ach ja. Du weißt es noch nicht. Du …«
»Was weiß ich noch nicht?«
»Ich erkläre es dir im Wagen. Kannst du schneller laufen?«
Sie rannten jetzt, Rusty hielt fest ihre Hand, Piniennadeln und Ästchen bohrten sich in ihre nackten Füße. Sie waren hinten um den Schuppen herumgelaufen und erreichten eine Lichtung. »Hier sind die anderen Kinder begraben«, sagte er. »Unter den Blättern und Piniennadeln. Die Blumen … das sind ihre Gräber.«
Die anderen. Die ihre verzweifelten Nachrichten auf der Badezimmerwand hinterlassen hatten. Helft mir. Böser Man. Findet meine Mami …
»Die den Korridor nicht überlebt haben«, setzte er hinzu.
Sie entriss ihm ihre Hand. »Er will mich umbringen? «, zischte sie. »Und du … du hast zu tun mit diesen … diesen anderen Morden? Meine Güte, ihr seid doch Monster, ihr …«
»Ich bin kein verdammtes Monster«, blaffte er. »Vor sechs Jahren war ich genau wie du. Ich hatte panische Angst. Ich war verzweifelt. Gefangen. Aber … oh Gott, komm jetzt, bitte, wir müssen uns beeilen. Wir reden im Wagen …«
Sie rannten weiter. Schließlich erreichten sie eine unbefestigte Straße, an deren Rand ein altes Auto stand. Rusty riss die Beifahrertür auf, und Sunny hechtete hinein, als fürchtete sie, sonst zurückgelassen zu werden. Als Rusty versuchte, den Hund dazu zu bewegen, ein wenig zu rücken und Annie etwas Platz zu machen, hielt ein Truck und Rusty rief: » Oh Scheiße, das ist er, das ist er. «
In dem Augenblick, als er sie ansah, wurde ihr klar, dass sich jetzt alles verändert hatte, dass Rustys Angst vor Peter größer war als sein Mitgefühl mit ihr. Annie wirbelte herum und wollte davonlaufen, aber Rusty hatte ihren Blick genauso präzise gelesen wie sie seinen und packte sie hinten an ihrem Shirt. Seine Hand landete auf ihrem Mund, sein Arm schlang sich um ihre Hüfte.
»Gott, es tut mir leid, wirklich …«
Sie kreischte unter der rauen, schweißigen Haut seiner Hand, sie trat nach ihm, sie versuchte, sich zu befreien. Aber er hielt sie fest, er rang sie zu Boden. Bremsen kreischten, dann Peters Stimme: »Gute Arbeit, Sohn. Halt sie fest.«
Etwas Nasses klatschte auf ihren Mund und ihre Nase. Schon wieder Chloroform, dachte sie, dann verschwamm der Boden, die Stimmen verhallten und drifteten davon, die Welt wurde vollkommen dunkel.
2
»Hilf mir, sie in den Truck zu laden«, sagte Wheaton und packte die Arme des Mädchens.
Rusty stand da und starrte Annie an, die Hündin leckte dem Mädchen das Gesicht und jaulte. Er schien unter Schock zu stehen.
»Nimm ihre Beine, Rusty.«
Er sah auf, ein großer, muskulöser junger Mann mit einem Kiefer, auf dem sich bereits ein Bartschatten zeigte. »Was du tust, ist falsch, Pete.«
»Das hast du schon gesagt. Nimm ihre Füße.«
»Nein.«
Er entfernte sich von Wheaton, er schüttelte den Kopf und kämpfte gegen sich selbst. »Es ist wirklich falsch, Pete. Es ist nicht nur verboten, es ist … es ist unmoralisch.«
Wheaton ließ die Arme des Mädchens fallen und kam auf Rusty zu. »War es falsch von mir, dich aus diesem Höllenloch von Familie rauszuholen, in dem du zwölf Jahre gelebt hast? Hm, Rusty? War das falsch? « Er schrie nicht, er musste es nicht. Er erkannte die Angst in Rustys Gesicht, die Überreste der Unterlegenheit aus einer früheren Zeit. »War es das wirklich?«
Rusty wich ihm nicht aus. Er sah nicht zu Boden wie früher, er legte seine Hände nicht hinter den Rücken, er zog den Kopf nicht ein, als wollte er ihn zwischen den Muskeln seiner Schultern verstecken. Er hielt stand. »Ich bin dir dankbar, mich da rausgeholt zu haben. Wirklich. Aber es war
Weitere Kostenlose Bücher