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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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Telefon fand, Menschen, ein Haus.
    Annie nahm ihre Position an der Wand ein, rechts von der Tür. Sie übte, die Stange richtig zu halten. Sie ließ sie durch die Luft sausen. Annie war nur eins siebenundfünfzig, und sowohl Peter als auch Rusty waren mindestens eins achtzig. Sie würde nicht hoch genug kommen, um einen von ihnen am Kopf zu treffen, also musste sie auf ihre Kniekehlen zielen. Sie müsste nur heftig genug zuschlagen, damit sie zu Boden gingen.
    Sie übte immer wieder, und die Stange zischte durch die Luft. Sie sah, wie die Stange den Mann oder Rusty traf. Sie sah es ganz deutlich vor sich, ganz genau, sie sah sie vornüber kippen und zu Boden gehen, sie sah sich selbst zur Tür hinauslaufen, in die Freiheit.
    Wenn du es dir vorstellen kannst, sagte ihre Mutter immer, dann kriegst du es auch hin.
    Sie hörte draußen ein Pfeifen, einen eigenartigen, tonlosen Refrain, den der Mann irgendwann einmal gesummt hatte, als sie krank gewesen war, und presste sich an die Wand, sie umklammerte die Stange. Schlüssel klirrten. Sie zwang sich, reglos zu stehen, kaum zu atmen. Schweißperlen traten auf ihre Stirn, ihr Herz schien in ihrer Brust umherzuspringen wie ein Tennisball.
    Die Schlösser öffneten sich, die Tür ging auf, ein Sonnenstrahl fiel in das Zimmer, und mit ihm ein Hauch Sommerhitze und Freiheit. Sie sah ihn durch den Türspalt, einen großen dünnen Mann mit leicht herunterhängenden Schultern. Einer langen Nase und mehr Falten, als sie erinnerte. Er hatte kurzes, ergrauendes Haar. War sein Haar schon immer grau gewesen? So erinnerte sie es nicht. Sie dachte, sein Haar wäre blond. Grau, blond, das ist doch egal!
    Er trug einen kleinen Fernseher und blieb stehen, um ihn anders zu greifen. Los, kreischte sie ihn im Kopf an. Jetzt komm schon rein.
    Er schaute auf, als hätte er sie hören können, und hastete dann zur Tür herein. »Annie?«, rief er und kickte die Tür hinter sich zu.
    Einen Herzschlag lang erstarrten ihre Beine, ihre Füße klebten am Boden, sie konnte sich nicht rühren. Sie stand einfach nur da, starrte seinen Rücken an, umklammerte die Stange. Dann stürzte sie sich vor und schlug zu. Offenbar hatte er etwas gehört, denn er begann, sich umzudrehen, als ihr erster Schlag ihn traf. Nicht hinten in die Kniekehlen, nicht ins Gesicht, sondern sie erwischte seine Arme und Hände, die er um den Fernseher geschlungen hatte.
    Seine Augen quollen hervor, der Fernseher glitt ihm aus den Händen und fiel zu Boden, der Bildschirm zerbarst. Er schrie nicht, er röhrte, ein so großes und mächtiges Geräusch, als hätte man Jahrzehnte wilder Wut freigelassen. Blut lief über seine Finger, er presste einen Arm an seine Seite, taumelte aber nicht, fiel nicht. Sie schlug noch einmal zu. Die Stange traf seine Rippen, seine Füße rutschten auf dem zerbrochenen Glas des Fernsehbildschirms herum, und er verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden wie ein ungeschickter Riese. Als er auf den Boden prallte, konnte sie das Vibrieren an ihren nackten Fußsohlen spüren.
    Annie ließ die Stange fallen und rannte zur Tür, sein Schreien und Brüllen fraß die Luft, die sie atmen wollte, bildete eine Art Wand, gegen die sie sich stemmen musste. Sie riss die Tür auf, knallte sie hinter sich zu, mühte sich mit der Kette, schloss ihn ein. Sie rannte den Weg entlang, sog die frische Luft in ihre Lungen, liebte die Wärme des Sonnenlichts auf ihrem Gesicht. Sie hörte ihn brüllen, gegen die Tür hämmern, daran zerren.
    Dann tauchte sie ein in den Wald, sie rannte, sie huschte zwischen den Bäumen hindurch, sie taumelte über Wurzeln, die aus dem Boden ragten. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, wie nah an einer Straße sie war, wie weit der Wald reichte. Sie überlegte, ob sie auf einen Baum klettern und den Einbruch der Dunkelheit abwarten sollte, aber sie wollte nicht anhalten. Wenn sie weiterlief, würde sie irgendwann irgendetwas oder irgendwen erreichen, der ihr helfen konnte.
    Der Wald endete abrupt, und das Land brach dreißig Meter ab, Steine, Wasser. Die Florida Bay? Der Golf? Sie wusste es nicht, sie erkannte gar nichts. Sie entdeckte einen schmalen Strand ein wenig weiter, darauf Sonnenschirme, sie rannte jetzt an der Kante der Klippe entlang, sie hoffte, einen der Sonnenbadenden auf sich aufmerksam machen zu können, einen Schwimmer, einen Lebensretter, irgendwen, irgendjemand.
    »Hey, Annie. Hier drüben.«
    Ihr Kopf wirbelte herum. Rusty und der Hund warteten am Rande des Waldes auf sie. Er

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