Die Spur der verlorenen Kinder
schuldbewusstes Lachen von sich. »Tut mir leid, ich rede die ganze Zeit, und Sie hatten eine Frage.«
Sie standen jetzt kaum einen Meter voneinander entfernt, und Mira konnte plötzlich kein Wort mehr herausbringen, weil sie einen Kloß im Hals stecken hatte. Ihre Kindheitserinnerungen an Nadine in diesem Alter wurden ihr nicht gerecht. Ihre Schönheit war erschreckend genug, doch es war die Stimme – der sanfte, fast melodische Tonfall – die Mira am meisten berührte.
»Sie kommen mir so bekannt vor«, bemerkte Nadine und runzelte die Stirn. »Haben wir uns schon einmal gesehen?«
Irgendwie erkennt sie mich. »Ich glaube nicht. Ich habe mich verfahren und wollte nur nach dem Weg fragen. Ich versuche, äh, nach Pirate’s Cove zu kommen.«
Es war die schnellste Lüge, die ihr einfiel.
»Folgen Sie einfach der Straße, die Sie hierher genommen haben, und biegen Sie an der ersten Kreuzung rechts ab. Die Straße führt Sie nach Norden. Dann …«
Die Haustür flog auf, und ein junges Mädchen mit Zöpfen schoss heraus und rief: » Nana, Nana Nadine, komm schnell. Lucy hat gegessen …«
Den Rest hörte Mira nicht. Lärm überflutete ihren Schädel, das Licht zitterte, alles kippte zur Seite. Das bin ich, das Kind bin ich. Sie hatte das Gefühl, als würde sie im Rückspiegel einen Wagen sehen, der auf sie zuraste, und sie wusste, wenn sie nicht aus dem Weg sprang, würde er sie niedermähen. »Ich muss los«, murmelte sie und drückte Nadine den Zettel in die Hand. Dann rannte sie praktisch zurück zur Straße, zurück zu ihrem Wagen.
Der Vogel kreischte, der Lärm dröhnte weiter durch ihren Kopf, ihre Hände zitterten, als sie den Wagen anließ. Sie fuhr weg von dem Haus, sie fuhr, so schnell es der Wagen zuließ, und schaute nicht zurück. Sie schaffte knapp einen Kilometer, bevor die Gefühle sie überwältigten und sie anhalten musste.
Sie drückte ihre Fäusten auf die Augen, sie wünschte sich verzweifelt, dass sie ihr jüngeres Selbst hätte in die Arme nehmen und sich irgendetwas Weises hätte zuflüstern können, das sie mit sich ins Erwachsenenleben nähme, etwas, das ihr Halt gab, wenn Tom ermordet würde.
Ich kann das verhindern. Und ich kann Annies Entführung verhindern. Ich muss bloß …
Was? Ihrem jüngeren Ich sagen, dass es nicht nach Tango ziehen sollte?
In jedem Science-Fiction-Buch, das sie gelesen hatte, in jedem Zeitreisefilm, den sie gesehen hatte, und in fast jeder wissenschaftlichen Theorie, die sie über Zeitreisen gelesen hatte, wurde das Paradoxon der Einmischung in die Vergangenheit erwähnt. Doch ihre Erfahrungen als Wahrsagerin, vor allem seit sie hergekommen war, schienen anzudeuten, dass die Wirklichkeit tatsächlich mehrdimensional war, etwa wie die Viele-Welten-Theorie der Quantenphysik, sodass jede Entscheidung, die man traf, neue Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten erschuf. So gesehen konnte es eine Wirklichkeit geben, wo sie Annie und dem Monster nicht gefolgt, sondern zurück nach Tango gefahren war, um Hilfe zu holen. Es konnte eine weitere Wirklichkeit geben, in der sie mit dem Entführer gekämpft hatte und einer von ihnen ums Leben gekommen war, oder eine Wirklichkeit, in der Annie entwischt war, eine, in der man den Entführer verhaftet hatte.
Sie fragte sich, ob ihre Erinnerungen jetzt anders waren.
Kaum dachte sie daran, tauchte eine Erinnerung an jenen Nachmittag im Juni 1968 auf, als sie aus Nadines Haus gelaufen kam, sie rief, dass Lucy, die verletzte Taube, angefangen hatte zu essen, sie musste es einfach ihrer Nana Nadine erzählen. Aber Nana redete mit einer Frau mit einem Vogel auf der Schulter, und als die Frau Mira sah, wurde sie ganz blass. Sie drückte Nadine etwas in die Hand und lief davon, der Vogel kreischte.
»Wer war die Frau, Nana?«
»Sie hatte sich verfahren, mí amor «, entgegnet Nana und schaut dem davonfahrenden Elektrowagen hinterher.
»Was hat sie dir gegeben?«
»Ich bin nicht sicher.«
Nadine entfaltet den Zettel in ihrer Hand. Mira sieht, wie ihr Ausdruck sich ändert, die Falte zwischen ihren Augen vertieft sich, die dunklen Augen sind überrascht, besorgt, erstaunt. »Was ist, Nana?«
»Eigenartig. Was glaubst du, wie viele Menschen es auf Tango gibt, die Mira heißen?«
»Bloß mich.« Sie lacht.
»Die Frau heißt auch Mira. Auf Spanisch nennt man denjenigen, der denselben Namen hat wie man selbst, seinen tocayo. «
»Was steht auf dem Zettel?«
Nana Nadine fächelt sich mit dem Strohhut Luft zu und legt dann
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