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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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verschiedene Nuancen von sanftem Blau und blasse Meergrüntöne, die mittlerweile Miamis South Beach prägten. Die Gärten lagen im Schatten, die Luft flirrte noch vor Sommerhitze.
    Das Haus kam in Sicht, ein einstöckiger Betonblock in Kanariengelb. Es war eines der wenigen Häuser in der Straße mit einer Garage statt eines Carports, und es verfügte über den üppigsten Garten. Ein Steinweg zog sich zwischen den Pflanzen hindurch, den leuchtenden Ranken, den Büscheln strahlend orangefarbener Springbrunnenpflanzen. Windspiele hingen von den Ästen der Bäume und ließen dann und wann leise, einladende Töne erklingen, wenn eine Brise sie berührte. Ein dunkelblauer Mercedes stand in der Auffahrt, derselbe Wagen, der in ihrer Kindheit viele Jahre lang mindestens einmal im Monat in der Auffahrt ihrer Eltern in Miami aufgetaucht war. Sie würde in den Mercedes steigen und ihr wahres Leben würde beginnen. Durch die Linse der Erinnerung erschienen ihr diese Besuche jetzt wie die Einführung in eine Geheimschule.
    Sie stoppte den Wagen am Straßenrand, sie wusste plötzlich nicht mehr, was sie machen sollte. Klingeln und sich als Mira Piper vorstellen? Nadine die Wahrheit sagen? Davonlaufen?
    Bevor sie es sich überlegen konnte, ging die Garagentür hoch und eine schlanke Frau mit einem Sonnenhut, Shorts und einem ärmellosen Baumwollhemd kam heraus. Sie war barfuß, trug Gartenwerkzeuge bei sich und zog einen Schlauch hinter sich her. Mira konnte das Gesicht der Frau nicht sehen, aber sie erkannte Nadine bereits an der eleganten Art, wie sie sich bewegte. Sie war jetzt Ende vierzig, auf der Höhe ihres Lebens, nicht viel älter als Mira selbst.
    Mira sah zu, wie Nadine den Gartenschlauch ablegte, ihre Werkzeuge auf den Boden stellte, sich hinkniete und zu graben begann. Sie wusste, dass Nadine vor sich hin summte oder leise mit ihren Blumen sprach, während sie Unkraut zupfte und Erde umgrub. Sie hielt inne und fächelte sich mit ihrem Strohhut Luft zu, und plötzlich schaute sie zur Straße, als hätte sie gespürt, dass jemand sie beobachtete. Mira, deren Herz hämmerte, schaute hinunter auf ihre Hände.
    Entscheide dich. Schnell. Bleib oder geh, aber sitz nicht bloß herum. Sie wühlte in ihrer Tasche und zog einen Stift und einen Zettel heraus. Was sollte sie sagen?
    Die Wahrheit. Sie sollte die Wahrheit schreiben.
    Aber die Wahrheit musste so geschrieben werden, dass Nadine im Jahr 2003 sie verstehen würde, wenn sie den Zettel je zu Gesicht bekäme – dass die Nadine im Jahr 1968 sie aber nicht als irre ansah. Mira schrieb den Zettel, sie wählte ihre Worte sorgfältig. Dann riss sie das Blatt vom Block, faltete es, stieg aus dem Wagen, Dusty auf der Schulter. Sie ging zum Haus, die steile Auffahrt hoch, an den leuchtenden Blumen vorbei, auf die Frau zu, die der größte Einfluss auf den Verlauf ihres Erwachsenenlebens war – oder werden würde, je nachdem, aus welcher zeitlichen Sicht man es betrachtete. Sie kennen mich nicht, aber …
    Nadine erhob sich, sie klopfte sich die Hände an ihren Shorts ab und verknotete ihr dichtes schwarzes Haar fester hinter dem Kopf. »Hi«, rief sie. »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Ich hoffe.«
    Der Sittich quäkte plötzlich: » Hola, amigas «, und Nadine lachte.
    »Er hat sogar das richtige Geschlecht gewählt. Amig- as statt Amig- os. Ein Wedellsittich, oder?«
    »Ja.«
    Nadine sprach auf Spanisch mit dem Vogel, Dusty schien die Sprache zu verstehen, und als sie den Finger ausstreckte, nahm der Vogel die Einladung an, flatterte mit den Flügeln, blähte seine Federn auf. »Es gibt Schwärme wilder Vögel auf der Insel. Sittiche, grüne Papageien, sogar ein paar Aras. Man sieht sie manchmal am Abend«, sagte Nadine, »in der Dämmerung.« Sie berührte Dustys Brust mit ihrem Fingernagel und zog ihn dann über seine linke Schwinge, die Dusty ausbreitete. »Seine Flügel sind nicht beschnitten. Aber er fliegt nicht davon. Das spricht sehr für Sie.«
    Das war die Nadine, die Mira kannte, eine Frau, deren wichtigstes Urteil über andere Menschen darauf basierte, wie sie Tiere behandelten und wie Tiere auf sie reagierten. »Eigentlich taucht er nur von Zeit zu Zeit auf. Er hat mich neulich am Strand gefunden.«
    »Die Kubaner haben ein Sprichwort über Tiere, die uns finden«, sagte Nadine und setzte Dusty zurück auf Miras Schulter. »Sie sagen, sie seien unsere Leuchttürme und unsere Mentoren. Sie haben sich entschieden, uns etwas zu lehren.« Sie gab ein kurzes,

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