Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
Kehle.
»Sie sind gekommen.«
»Weil ich musste.«
»So, so, weil Sie mussten.«
Darauf wusste Julia nichts zu sagen. Eine Uhr tickte irgendwo.
»Sie machen alles, was Sie müssen, hm?«
Längst nicht, hätte sie fast erwidert, dachte an den Mann von gestern Nacht, an ihre Mutter und an ihr schlechtes Gewissen. Ihre Gedanken schlugen sich durchs Dickicht. Zeit verging. Nach einer Weile hob sie den Blick, straffte sich und sagte: »Fels will mich nur arbeiten lassen, wenn ich eine Therapie mache. Andernfalls wird er sich an die Entscheidungen des Polizeiarztes halten, und der schreibt mich weiter dienstunfähig. Aber ich krieg ‘ne Macke zu Hause. Und wer weiß, wie dann alles weitergeht.« Sie schwieg kurz und dachte an einen Kollegen, den man dauerhaft dienstunfähig geschrieben hatte. Anfang Vierzig, erst Security bei einem großen Pharmaunternehmen, dann arbeitslos, jetzt in der JVA in Münster. Als Insasse. »Deshalb bin ich hergekommen.« Und weil sie nicht außen vor sein wollte, nie draußen, nie mehr.
»Das hat er mir auch erzählt.« Ungeduldig streifte Bayer die Asche ab. »Was wollen Sie denn nun?«
Wieder das Gedankenchaos. Keine Silbe formte sich. Draußen.
»Ich hab meine Zeit nicht gestohlen. Üblicherweise rede ich mit Menschen, die irgendwas in ihrem Leben ändern wollen. Wenn Sie keiner von denen sind, gehen Sie wieder nach Hause.«
Was bildete sich der Alte ein? Unbedingt wollte sie etwas ändern in ihrem Leben. Nur wie?
»Dabei kann ich Sie unterstützen«, sagte er, als habe sie den Gedanken ausgesprochen. Er stand auf, wühlte in einer Schreibtischschublade und förderte ein paar bedruckte Seiten zu Tage. »Nehmen Sie sich Zeit.« Er reichte sie ihr.
»Was ist das?«
»Ein Fragebogen zu Ihrer Lebensgeschichte, Arbeitsgrundlage.«
»Aber ...«
»Wir sehen uns morgen wieder. Selbe Zeit, selber Ort. Jetzt muss ich lesen.«
Sie war entlassen.
6
Die Straße vor mir wurde schmaler. Mir kam es vor, als sei ich im Nirgendwo unterwegs, in Weißrussland oder in Sibirien vielleicht. Regen und Wald und Dunkelheit. Bevor wir zusammengezogen sind, hatte ich viele Tage, unendliche Nächte dahinziehen sehen in Dunkelheit und Regen.
Den Tag nach unserer Begegnung verbrachte ich vor dem Rechner, den übernächsten auch. Das Telefon schwieg. Am Mittwochmorgen rief der Verlag an und wollte wissen, ob ich meine Deadline einzuhalten gedächte. Ich sagte, selbstverständlich und sie sollten mich nicht von der Arbeit abhalten und sie könnten mich mal. Nein, das sagte ich natürlich nicht. Die Schöne ging mir nicht aus dem Sinn.
Nach unserer Begegnung war ich singend durch die Felder zurückgefahren, dann die Osterwickerstraße entlang, am Polizeipräsidium vorbei, hatte einem Bullen zugewunken, den ich von Zeit zu Zeit im Stephanus traf, zuletzt am 26. Dezember zum Stephanus steinigen. Dieses Junggesellengelage wurde alljährlich in dem Brauhaus abgehalten und hatte nur wenig mit den Leiden des Heiligen zu tun, außer dem Stein, den man in der Tasche zu tragen pflegte, allerdings nur um ein Freibier zu bekommen.
Die Weinflasche auf dem Beifahrersitz hatte ich zur Hälfte geleert, als ich heimkam und den Wagen in der Einfahrt neben dem Haus stehen ließ, in dem ich eine Wohnung gemietet hatte, nicht weit von meinen Eltern entfernt. Die Garage erschien mir plötzlich zu eng. Die neben meinem Elternhaus war jedenfalls größer. Kurz fand ich den Gedanken, zu Mutter zu ziehen, gar nicht mehr so abwegig. Ich könnte den Dachboden ausbauen und Mutter die Enkel betreuen, die ich ihr schenken würde, wenn ich die Schöne geehelicht hätte. Um meinen Mund zuckte es, aber mir war nicht nach lachen, ohne Isabell. Mein Abend war bei dem Rest des Weins und dem Plätschern der Berkel, des Flüsschens unterhalb des Grundstücks, auf dem Balkon zu Ende gegangen. Irgendwann in der Nacht war ich ins Bett gewankt.
Was hatte ich mir nur eingebildet? Wahrscheinlich hatte die Schöne einen Freund oder einen Mann und zwei Kinder. Das Telefon stellte sich tot auf seiner Ladestation. Sei’s drum. Toni würde sich sicher über meinen Besuch freuen und glänzende Augen bekommen, wenn ich mit dem neuen A4 vorfuhr. In den letzten Tagen war ich mit meiner Arbeit gut voran gekommen, nur meine Fertigmahlzeiten gingen zur Neige, und es war still zwischen den Wänden, wenn ich den Lautsprecher vom Rechner ausschaltete. Manchmal machte ich den Fernseher an und hörte den Sturm der Liebe toben oder Frau Salesch reden. Die Uhr
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