Die Spur des Blutes (German Edition)
sollte sie es nicht erfahren. Zumindest nicht jetzt. Jetzt konnte Mrs Wells nichts Besseres tun, als weitere Fragen zu beantworten. »Können Sie mir bitte beschreiben, was er anhatte? Ganz genau?«
Mrs Wells runzelte die Stirn. »Eine dunkle Anzugjacke. Schwarz oder dunkelblau.« Sie fasste sich an den Hals. »Ein weißes Hemd. Und Jeans, glaube ich.«
»Sie haben nicht zufällig nach draußen gucken können und gesehen, was er für ein Auto fuhr?« Jess vermutete, dass die Antwort Nein lautete, aber fragen schadete nie. Vielleicht hatte sie auf dem Weg zur Tür einen Blick aus dem Fenster geworfen und einen fremden Wagen auf der Straße bemerkt, ohne sich etwas dabei zu denken. Oftmals fiel den Zeugen doch noch etwas ein, wenn man genug gezielte Fragen stellte.
»Ich dachte, Lori wäre an der Tür. Ich habe gar nicht nach draußen gesehen.«
Jess erkannte, dass der Frau vorerst nichts Relevantes mehr einfallen würde. »Mrs Wells, brauchen Sie ärztliche Hilfe?«
»Nein. Nein.« Sie packte Jess’ Hand. »Finden Sie meine Tochter, mehr brauche ich nicht.«
»Ich verstehe. Eine letzte Frage, Ma’am.«
Mrs Wells sah sie erwartungsvoll an.
»Trug der Mann Handschuhe? Oder etwas, um sein Gesicht zu verbergen oder unkenntlich zu machen? Irgendetwas?«
»Keine Maske, keine Sonnenbrille. Nichts dergleichen.« Sie zögerte. »Aber er trug Handschuhe. Solche aus Latex, wie die von Ärzten und Krankenschwestern, nur dass sie dicker wirkten.« In ihren Augen war zu sehen, wie es ihr allmählich dämmerte. »So wie die meiner Friseurin, wenn sie mir die Haare färbt.«
»Ich danke Ihnen, Mrs Wells.« Jess stemmte sich hoch. »Wir haben möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt noch weitere Fragen an Sie.«
Jess ließ Harper bei der Frau und ging in die Küche.
Burnett hatte die gleiche Geschichte von der Tochter, Terri, gehört.
Als Terri ins Wohnzimmer zu ihrer Mutter gegangen war und er und Jess allein waren, fragte Burnett: »Warum hat er sie sein Gesicht sehen lassen?«
Gute Frage. Auf die es keine gute Antwort gab.
Bis vor zwei Monaten war Spears für alle Welt nichts weiter als ein wohlhabender, zurückgezogen lebender Geschäftsmann aus Richmond gewesen. Dann hatten Jess’ Ermittlungen ihn mit mindestens sechs grässlichen Morden in Verbindung gebracht, begangen durch einen Serienmörder, den man den Spieler nannte. Dieser bis dahin unbekannte Täter, der Spieler, war den Behörden seit über fünf Jahren immer wieder entwischt … und die Zahl seiner Opfer lag bei mindestens dreißig. Auch wenn ihre Ermittlung am Ende im Sande verlief, war Jess absolut sicher, dass Spears der Spieler war. Doch sie konnte es ihm einfach nicht nachweisen. Es gab nicht einen einzigen Beweis, der ihn auch nur mit einer Parksünde in Verbindung gebracht hätte, geschweige denn einem Mord.
Das FBI hatte keine andere Wahl gehabt, als ihn gehen zu lassen. Die darauf folgende Medienhatz wegen der stümperhaften Ermittlungen war für Jess’ Karriere vernichtend gewesen. Ihr Vorgesetzter hatte sie dazu verdonnert, Urlaub zu nehmen, bis der Staub sich gelegt hatte. Woraufhin sie die erste Gelegenheit ergriffen hatte, aus Virginia zu flüchten. Aber es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen, in ihre Heimatstadt Birmingham.
Denn
er
war ihr gefolgt.
Nun plötzlich entführte er eine Polizistin und ließ zwei Zeugen zurück, die ihn als Eric Spears identifizieren konnten?
Irgendetwas daran war fürchterlich falsch.
Das wahrscheinlichste Szenario war, dass dies Spears’ letztes Spiel sein sollte, in diesem Land zumindest. Jess hatte dafür gesorgt, dass er unter ständiger Beobachtung stand, und den Schatten des Verdachts, den sie auf ihn geworfen hatte, würde er nie mehr ganz loswerden. Diese neuen Umstände engten ihn ein, zwangen ihn, seine Vorgehensweise zu ändern. Wenn dies aber tatsächlich sein Schwanengesang war, dann zählte wohl für ihn nur noch das Spiel und was immer sein Ziel dabei war. Folglich wäre ihm egal, wer ihn sah. Er plante sowieso, bald weg zu sein. Aber warum sollte er dann Handschuhe tragen? Das passte nicht zusammen.
Harper erschien in der Tür. »Ma’am, Mrs Wells möchte mit Ihnen sprechen.«
Jess und Burnett tauschten einen Blick, bevor sie ins Wohnzimmer gingen. Die Kriminaltechniker stellten gerade Mrs Wells’ ordentliches Zuhause auf den Kopf. Sie und ihre Tochter saßen immer noch auf dem Sofa und hielten sich verzweifelt aneinander fest.
Mrs Wells sah zu Jess hoch. »Sie
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