Die Spur des Blutes (German Edition)
Jess’ bösem Blick mit überraschender Festigkeit. »Ich habe morgen früh ein Vorstellungsgespräch in Nashville, aber ich bin gegen Mittag zurück. Lil und die Kinder können dann fertig sein, und wir fahren sofort los.«
Da hatte der Professor wohl doch Mumm in den Knochen, auch wenn er Unsinn redete. Welchem Idiot war der Job wichtiger als seine Familie? »Jede Minute, die du wartest«, sagte Jess warnend, »erhöht das Risiko für deine Familie.« Aber wie sollte sie Blake einen Vorwurf machen, wenn Lil noch nicht einmal zu einem Kompromiss bereit war?
»Ich kriege morgen früh die Klammer ab, Tante Jess. Den Termin darf ich nicht verpassen.«
Jess drehte sich zu Alice um, die sie mit einer »Ich wünschte, du würdest verschwinden«-Miene ansah, wie sie nur Teenager zustande brachten. Na wunderbar. Jetzt war sie auch bei Alice in Ungnade gefallen. »Das ist toll, Liebes.«
»Deputy Chief Harris«, meldete sich Special Agent Nora Miller zu Wort, »ich weiß, Sie machen sich Sorgen um Ihre Schwester und ihre Familie, aber ich versichere Ihnen, dass wir alles unter Kontrolle haben. Ich werde die ganze Nacht hier sein. Morgen früh bringe ich Lily und ihre Tochter persönlich zu ihrem Termin.«
Die Neuigkeit von ihrer Karriereveränderung hatte schnell die Runde gemacht, das stand schon mal fest. Vermutlich per SMS. Jess hasste es, SMS zu schreiben. Auch wenn es ihr durchaus gefallen hatte, wie sie Gant mit ihrer Kündigungs-SMS auf die Palme gebracht hatte.
»Uns passiert schon nichts«, fügte Miller hinzu, als Jess nicht sofort reagierte.
Jess starrte die Agentin an. Sie war um die dreißig. Hatte vielleicht vier oder fünf Jahre Erfahrung. Sie schien recht fähig zu sein. Groß, athletische Figur. Braunes Haar, zu einem ordentlichen Knoten aufgerollt. Ihre bequeme Hose und Bluse waren gepflegt, konservativ. Genau wie ihre Schuhe: praktische, sorgfältig polierte Lederschnürschuhe.
Auch sie hatte keinen blassen Schimmer.
Jess wusste nicht, wie sie auf ihren Kommentar antworten sollte, ohne die Agentin zu beleidigen und Lilys Familie in Unruhe zu versetzen. Sie gab nach. »Morgen, zwölf Uhr mittags«, bestätigte sie, »und keine Minute später.«
»Keine Minute später«, versprach Blake.
Jess warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Du bringst das Lil bei?«
»Noch ehe die Kinder und ich fertig sind, wird sie glauben, es wäre ihr Idee«, versprach er.
Mehr konnte sie nicht tun, fand Jess.
»Danke für den Kaffee«, sagte Burnett in die Stille hinein.
Jess umarmte ihre Nichte und ihren Neffen fest und ermahnte sie, ganz besonders vorsichtig zu sein. Ihren Schwager aber hätte sie unter anderen Umständen gern nach draußen geschleift und zur Rede gestellt. Nashville? Was zur Hölle dachte er sich dabei? Stattdessen umarmte sie ihn wie die Kinder, wenngleich deutlich weniger herzlich, und ging mit einem vielsagenden Blick zu der Agentin hinaus.
Burnett folgte Jess aus der Tür, genauso wie die Agentin, die Jess’ subtile Aufforderung glücklicherweise verstanden hatte.
Burnett, der merkte, dass Jess der FBI-Dame etwas zu sagen hatte, wies mit dem Kopf auf seinen Officer, der an der Straße stand, und sagte: »Ich brauche nur eine Minute.«
Als Jess allein mit Agent Miller auf dem Gehweg vor dem Haus ihrer Schwester stand, hielt sie mit ihrer Meinung nicht mehr hinterm Berg. »Agent Miller, ich weiß nicht, wie groß Ihre Erfahrung mit Mördern wie diesem ist –«
»Ma’am«, unterbrach Miller sie, »ich habe die ersten drei Jahre meiner beruflichen Laufbahn in Chicago verbracht, bevor ich nach Birmingham kam.« Sie lächelte – eher ein Grinsen. »Mit gewalttätigen Typen kenne ich mich bestens aus.« Sie zuckte die Achseln. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber im Moment wissen wir noch nicht mit Gewissheit, wer unser Täter ist. Egal, wer er ist, ich versichere Ihnen, ich habe hier alles unter Kontrolle. Und ich sorge dafür, dass sich Ihre Familie morgen um zwölf auf den Weg macht.«
Wenn sie es bei ihrer Großstadterfahrung belassen hätte, hätte Jess möglicherweise zurückgelächelt und ihr gedankt … aber das hatte sie nicht.
»Siebzehn Jahre«, gab Jess zurück, »an zu vielen Orten, um sie alle einzeln aufzuzählen. Ich habe alles gesehen, Agent Miller. Ich habe Psychopathen analysiert, die von dem, was einmal ein menschliches Wesen gewesen war, nur einen Fettfleck übrig ließen. Ich habe echte Soziopathen studiert, gegen die die Figuren in einem Stephen-King-Roman
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