Die Spur des Boesen
reichte ihn Dougherty. »Es tut mir Leid, aber Milch und Zucker sind uns ausgegangen«, entschuldigte sie sich. »Wir reisen morgen früh ab.«
»Es wäre reine Verschwendung gewesen«, schob Agnes schnell nach.
»Wohin ziehen Sie?«, fragte Dougherty und nippte an ihrem Tee.
»Muncie in Indiana«, erklärte Agnes. »Unser Orden hat dort eine Einrichtung.«
»Die Erzdiözese schließt die Kirche«, sagte Veronica.
»Verkauft das Grundstück.« Agnes schüttelte den Kopf. »Nach hundertfünfundzwanzig Jahren. Als wäre das Haus Gottes eine Metzgerei oder so was.«
»Die Dinge ändern sich, Schwester«, gab Veronica mit matter Stimme zu bedenken.
Angesichts der persönlichen Meinungsverschiedenheiten der beiden Schwestern hatte Corso das Gefühl, dass die Chance, ihnen ein paar Informationen zu entlocken, gegen null tendierte. »Wird der Friedhof auch verkauft?«, fragte er.
Veronica machte ein beleidigtes Gesicht. »Natürlich nicht! Sie können doch nicht...«
»Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie«, schnauzte Agnes. »Es geht heutzutage doch nur noch ums Geld. Um nichts anderes als den Dollar, den allmächtigen.«
Veronica seufzte. Ihr Blick hinter der randlosen Brille war nach innen gekehrt. »Als wir hierher kamen, gab es zweiundvierzig Schwestern. Jetzt gibt's nur noch uns.«
»Wann war das?«, fragte Dougherty.
»Neunzehnhundertneunundfünfzig«, antworteten sie gleichzeitig.
»Wir waren Lehrerinnen«, erklärte Agnes.
»Mathematik und Literatur.« Veronica deutete zuerst auf ihre Schwester, dann auf sich. »Das war, bevor einundachtzig die Schule geschlossen wurde.«
»Sie haben gesagt...«, begann Agnes.
Ihre Schwester schnitt ihr das Wort ab. »Wir hatten damals achtzig Mädchen. Zwanzig im Internat und sechzig aus der Stadt. Wir waren die größte katholische Mädchenschule in.. .«Während sie sprach, bekam ihre Stimme etwas Künstliches, Theatralisches und Leuchtendes, als spräche sie in der Dunkelheit mit sich selbst, um von ihrer Angst abzulenken. Als könnten ihre Worte, und nur ihre Worte, verhindern, dass sich die Klauen der Dunkelheit in ihren Hals gruben.
Schwester Agnes war da ganz anders, ihr Gesicht eine Maske der Entschlossenheit. Sie trat zwischen Corso und Veronica. »Sie sagten, Sie seien an dem Warwick-Grab interessiert«, erinnerte sie mit einer Stimme, die für eine freundliche Unterhaltung viel zu laut war. Während ihre Worte sich an Corso richteten, lag ihr Blick unverwandt auf Schwester Veronica. Der Blick, den die beiden Schwestern wechselten, war lang und so voll Egoismus und gegenseitiger Anschuldigung, wie es nur zwischen Menschen möglich ist, die längst zu viel Zeit miteinander verbracht haben.
»Damit scheine ich einen Nerv getroffen zu haben«, meinte Corso zu niemand Bestimmtem. Als Dougherty hickste, schüttete sie sich den Tee über die Hände, was beide Nonnen nicht bemerkten. Sie standen sich, schweigend miteinander kämpfend, auf zwei Meter gegenüber.
»Schwester, bitte ...«, meinte Veronica schließlich.
»Es ist ein Omen«, sagte Agnes. »Verstehst du das denn nicht?«
»Sei nicht blasphemisch«, warnte ihre Schwester. »Wage es nicht.«
»Kommt nicht alles von Gott?«, gab Agnes zu bedenken und deutete auf Corso und Dougherty. »Du bist doch diejenige, die das immer zu mir sagt, oder?«
»Eigentlich kommen wir aus Wisconsin«, widersprach Corso. Dougherty lächelte und trat auf seinen Fuß.
Schwester Veronica blinzelte, dann drehte sie sich seufzend um und ging zum Spülbecken. Goss den Rest des Tees in den Ausguss. Agnes beobachtete ihre Schwester einen Moment, bevor sie sich wieder Corso und Dougherty zuwandte.
»Warum sind Sie an diesem Grab interessiert, Mr...?«
»Falco.«
»Wir haben dreitausend Seelen auf unserem Friedhof. Warum ausgerechnet dieses?«
»Ich glaube, jemand hat Sissy Marie Warwicks Identität gestohlen.« Er wägte seine Worte sorgfältig ab. »Ich glaube, jemand könnte ihre Identität zu kriminellen Zwecken benutzt haben.«
»Was für kriminelle Zwecke könnten das denn sein?«, fragte Agnes. Es war, als sei der gesamte Sauerstoff aus der Küche gesaugt und durch eine elektrische Spannung ersetzt worden, wie sie einem Gewitter vorausgeht. Corso blickte von einer Schwester zur anderen.
»Vielleicht Mord«, antwortete Dougherty.
Auf der anderen Seite der Küche schepperte etwas — Veronica hatte die Teekanne ins Spülbecken fallen lassen, »jetzt schaut euch das mal an«, sagte sie. »Kaum zu glauben, wie
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