Die Spur des Tieres
Lache, die schon Tobias' Knie näßte.
Dumpf erinnerte er sich dieses Gesichts. Er hatte von der Empore aus beobachtet, wie das Mädchen in dem Kokon hinter dem Altar erwacht war und sich befreit hatte. Bekannt war ihm das sündhaft schöne Geschöpf indes nicht. Was hieß, daß das Mädchen nicht in Heidelberg daheim sein konnte. Dann nämlich hätte ein Herzensbrecher wie Tobias Stifter es ganz bestimmt gekannt .
Er wußte nicht, auf welche Art das arme Ding die Hand verloren hatte; aber das zählte jetzt auch nicht. Er mußte die Blutung stillen, sonst lief das bißchen Leben, das noch in ihr war, buchstäblich aus dem Leib, in dem gewiß ein Dutzend Knochen gebrochen waren bei dem Sturz.
Aus welcher Höhe mag sie herabgestürzt sein? fragte sich Tobias. Er sah nach oben und schauderte unwillkürlich, als sein Blick bei der dritten Empore anlangte. Die Höhe mochte hinkommen .
Ein Ruck durchlief den jungen Mann. Was kam's denn darauf an, von wo das Mädchen gefallen war und was es da oben zu schaffen gehabt hatte? Hilfe brauchte die Fremde, sonst nichts. Und er war der einzige, der sie ihr geben konnte.
Womit konnte er den Blutfluß aufhalten?
Tobias sah sich hastig um. Hinter den Trümmern der Bänke hing über einer anderen tot der Korbinian Troeltsch. Schuster war er zu Lebzeiten gewesen.
Wie mein Vater, ging es Tobias unwillkürlich durch den Sinn. Er vertrieb den Gedanken an seine Eltern und auch den Schmerz, der noch immer damit einherging .
Auf allen Vieren kroch Tobias hin zum Troeltsch und zerrte den mageren Leichnam herab. Mit zitternden Händen riß er dem Toten das grobgewebte Hemd vom Leib. Dann kroch er, den Fetzen mit sich zerrend, zurück und - Ein Kübel eiskalten Wassers, der ihm unversehens über den Kopf gegossen worden wäre, hätte ihn nicht mehr erschrecken können als der Anblick, der sich ihm bot.
Der Armstumpf des Mädchens blutete nicht mehr.
Konnte nicht mehr bluten, weil -
- eine Hand daran saß!
Festgewachsen, ohne Naht oder Narbe, als wäre sie schon immer dagewesen.
Aber es war ohne jeden Zweifel nicht die Hand des Mädchens!
Dunkle Haare sprossen aus der Haut, fast wie die Borsten eines Tieres. Kräftig und rissig waren die Finger, offenbar an hartes Zupacken gewöhnt.
Tobias schauderte. Nicht allein, weil diese Hand wie hingezaubert am Arm des Mädchens saß. Sondern weil sie schauderhafte Erinnerungen in ihm weckte. An den Auer, der ihn vor Tagen mit seiner Hand - ebenfalls der linken! - berührt und gepackt hatte, nachdem er, Tobias, auf das Grauen im Haus des Apothekers gestoßen war .
Der Auer .
Die Hand .
Ein plötzlicher Zwang ließ Tobias alle bisherige Vorsicht vergessen. Er erhob sich und schaute sich um, so bestimmt, als wüßte er längst, wonach er Ausschau hielt.
Dort, ein Stück entfernt im Mittelgang fand er ihn.
Balthasar Auer, den linken Arm steif gegen die Brust gepreßt.
Dunkle Male am Hals, vier rechts und eines links, rahmten den zerquetschten Knorpel seines Kehlkopfes ein.
Tot lag der Schmied da, erwürgt von eigener Hand.
Diese Hand jedoch -
- fehlte ihm!
*
Lilith hätte sich gewünscht, nicht wieder inmitten des Schlachtfelds zu sich zu kommen, dem sie ohnehin nur für kurze Dauer - und auch nur scheinbar - durch den Sturz in die Ohnmacht hatte entrin-nen können.
Als sie jetzt die Augen aufschlug, züngelte ihr suchender Blick förmlich über Lenas linken Arm dorthin, wo das sengende Schwert die Hand vom Gelenk getrennt, einen blutigen Stumpf hinterlassen und eine Schockwelle durch Leib und Seele gepflanzt hatte!
Träumte sie?
Hatte sie den Hieb der Klinge, die fürchterliche Amputation nur geträumt?
Ihr reflexartiger Versuch, die fremden Finger zu spreizen, scheiterte. Die Hand, die Lenas Arm abschloß, verweigerte jede Regung!
Eine Hand, viel zu groß, viel zu derb für den Arm, an dem sie festhielt und den keine Narbe, keine noch so winzige Naht als nicht dazugehörig auswies!
Nur die Hand selbst tat dies, denn sie war abstoßend häßlich im Vergleich zu dem, was Lilith von Kathalena gewohnt war ...!
Der Schrei, der sich aus ihrer Kehle quälen wollte, schaffte es nicht ganz. Er krepierte regelrecht im Hals, und fast hätte Lilith gehofft, der Schmerz, den sie beim Niederfahren der rubinroten Klinge gespürt hatte, würde immer noch in ihr pulsieren - als Beweis, daß es geschehen war!
Daß sie nicht dabei war, den Verstand zu verlieren!
Aber da waren weder Schmerz noch Taubheit. Die neue Hand, die an die Stelle
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