Die Spur des Verraeters
Haupthaus und die Außengebäude in Flammen standen, als sie das elterliche Anwesen erreichten. Inmitten der Trümmer galoppierten in Leder und Felle gekleidete Mandschu-Soldaten umher; ihre langen Zöpfe wehten, als sie flüchtende Diener niederritten und ihre Beute davonschleppten.
»Vater! Mutter!«, rief Hsi.
Das alte Paar lag mit durchgeschnittenen Kehlen vor der Eingangstür. Schluchzend kniete Liu Yun sich neben die toten Eltern. Hsi dagegen stürzte sich auf den nächsten Reiter und schrie: »Dafür wirst du sterben!«
Der Mandschu-Soldat zog sein Schwert. Entsetzt eilte Liu Yun zu seinem Bruder, um ihn an dem Kampf zu hindern. »Nein!«, rief er und zerrte Hsi zurück.
Der Soldat ritt mit seiner Beute – eine Schatulle aus Silber – lachend davon, während Hsi versuchte, sich aus dem Griff des älteren Bruders zu befreien. »Wir müssen den Tod unserer Eltern rächen!«, schrie er. »Wir müssen unsere Ländereien schützen!«
»Sei kein Narr, Hsi! Es sind zu viele Feinde, und wir haben keine Waffen. Wir müssen fliehen!«
Liu Yun zerrte den widerstrebenden Hsi ins Dorf, um dort Zuflucht zu suchen, und stellte erleichtert fest, dass die Armee der Ming die Siedlung bereits erreicht hatte. Auf dem Marktplatz hoben Offiziere junge Männer zum Kampf gegen die mandschurischen Eindringlinge aus. Hsi riss sich von Liu Yun los, stieß und schubste sich den Weg bis an die Spitze der wartenden jungen Männer frei und ließ seinen Namen vom Rekrutierungsoffizier in die Liste eintragen.
»Leb wohl, älterer Bruder!«, rief er kurz darauf vom Rücken des Pferdes, das die Armee ihm gestellt hatte. Seine Augen, erfüllt von Träumen nach Ruhm und Ehre, strahlten heller als die Klinge seines neuen Schwertes. »Wir treffen uns wieder, wenn der Krieg zu Ende ist.« Dann galoppierte er seinen neuen Kameraden hinterher und ließ Liu Yun zurück, in dessen Augen Tränen standen und dessen Seele von einer schmerzhaften Leere erfüllt war …
Abt Liu Yun vertiefte sich wieder in das Ritual des I Ching. Über die erste Linie zeichnete er eine zweite auf den Bogen Papier. Zorn verdrängte den alten Schmerz aus seiner Jugendzeit. Hsis Tod hatte Liu Yun etwas gelehrt, das die Ermordung seiner Eltern damals nicht vermocht hatte: das alles verzehrende Verlangen nach Rache, das so groß war, dass keine Gebete und keine Meditation es stillen konnte. Liu Yun wollte jeden töten, der mit dem Massaker an Hsi und dessen Rebellentruppe auf Taiwan zu tun hatte. Obwohl sein konfuzianischer Glaube ihm untersagte, die chinesische Regierung zu bestrafen, hasste Liu Yun sich dafür, dass er sich der Herrschaft der mandschurischen Kaiser unterworfen und Hsi nicht verteidigt hatte. Liu Yuns hilfloser Zorn hatte nach irgendeinem Ziel gesucht und sich schließlich auf die Holländer gerichtet; sie hatten Hsi und die anderen Aufständischen getötet, um Handelsprivilegien mit China zu erlangen. Und Liu Yuns besonderer Hass galt Jan Spaen, diesem rücksichtslosen Abenteurer, der Hsi zu Tode gefoltert hatte.
Ein weiteres Mal zählte Liu Yun die Stängel der Schafgarbe und schichtete sie um. Hoffentlich war es ihm gelungen, seine wahren Gefühle vor dem sôsakan des Shogun zu verbergen. Doch Liu Yun war sich sicher. Er hatte nicht umsonst ein Menschenleben damit verbracht, die Kunst des Verhandelns und der Beeinflussung anderer Menschen bis zur Vollendung zu lernen …
Ohne Geld und ein Zuhause war der junge Liu Yun damals nach Peking gereist. Die Stadt war unverändert und friedlich geblieben. Noch immer residierte der Ming-Kaiser in dem riesigen Komplex der Verbotenen Stadt mit ihren prunkvollen, von blutroten Mauern umgebenen Palästen. Noch immer suchten Kaufleute, Gelehrte, Künstler und Gesetzlose ihr Glück in diesem Zentrum des Handels und der Kultur. In diesem Winter in Peking hatte Liu Yun auf den Straßen betteln müssen und wäre beinahe an Hunger und Kälte gestorben. Doch als aus den fernen Provinzen nach und nach die Ergebnisse der kaiserlichen Prüfungen für den Staatsdienst eingingen, wurde Liu Yun von der Regierung mit einer Stelle als Schreiber im Ministerium für ausländische Angelegenheiten belohnt, wo er großes diplomatisches Geschick und Sprachbegabung an den Tag legte und seinen steilen Aufstieg in der Beamtenhierarchie begann.
Im Laufe der nächsten neun Jahre hörte Liu Yun nur betrübliche Nachrichten über seinen Bruder Hsi. Die Armee der Ming wurde immer weiter zurückgedrängt; die mandschurischen Invasoren
Weitere Kostenlose Bücher