Die Spur des Verraeters
Vielleicht hat er gestern Abend an der Feier teilgenommen und sich dann hier herauf zu den Unterkünften der Frauen geschlichen.«
Plötzlich ging Sano eine andere, beunruhigendere Erklärung durch den Kopf. Was war, wenn auch Pfingstrose brisantes Wissen über einen der mächtigen Männer der Stadt besessen hatte? Über Kommandant Ohira oder einen anderen hochrangigen Beamten – vielleicht sogar über Statthalter Nagai? Hatte einer dieser Leute Pfingstrose getötet und den Mord als Freitod hingestellt? Im bakufu gab es sehr viele Männer, die keinerlei Skrupel kannten, zum eigenen Schutz oder Vorteil unschuldige Bürger töten zu lassen.
Doch Sano sprach diesen Gedanken Ota gegenüber nicht aus, denn auch der yoriki konnte der Mörder oder der Komplize des Täters sein. Stattdessen hoffte Sano inständig, dass der Plan, den er an diesem Abend in die Tat umsetzen wollte, die Wahrheit zu Tage brachte, sodass er seine Nachforschungen nicht auf die hohe Beamtenschaft Nagasakis ausweiten und damit politische Gefahren heraufbeschwören musste.
»Was ist mit den Barbaren?«, fragte Ota mit übertrieben spöttischem Grinsen, mit dem er vermutlich seine Ängste übertünchen wollte. »Wollt Ihr mir etwa sagen, dass sie von Deshima auf das Festland geflüchtet sind und die Hure getötet haben?«
»Nein«, erwiderte Sano. »Aber außer Urabe gibt es mindestens einen weiteren Verdächtigen, der sich ungehindert in der Stadt bewegen konnte und womöglich Interesse daran hatte, dass Pfingstrose starb.«
18.
A
m chinesischen Tempel hoch in den Hügeln über Nagasaki endeten die abendlichen Riten. Abt Liu Yun kniete auf dem Boden seinen kargen Klosterzelle, um zu meditieren. Das sanfte, beruhigende Licht der Lampen fiel warm auf die verputzten Wände. Einst war der frühe Abend die liebste Tageszeit Liu Yuns gewesen, wenn Frieden seine Seele erfüllte und die spirituelle Erleuchtung in greifbarer Nähe schien. Doch der Tod seines Bruders hatte Liu Yuns innere Heiterkeit zerstört – und seinen Glauben. Und nun war die Vergangenheit wiedergekehrt und suchte ihn heim wie ein Dämon.
Liu Yun begann einen Sprechgesang, um sein aufgewühltes Inneres zu beruhigen, doch eine unaufhörliche Klage schrie in seinen Geist: Hsi ! Mein Bruder . Für immer fort ! Während Liu Yun an die Wand starrte, erschienen dort Szenen aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort …
… Ein Frühlingstag vor fünfundsechzig Jahren auf dem Anwesen der Familie Liu in der Provinz Shangtung. Blumenduft drang durch das Fenster des Studierzimmers, in dem der zehnjährige Liu Yun und sein achtjähriger Bruder Liu Hsi unterrichtet wurden. Der alte Lehrer Wu richtete seine klugen Augen auf Liu Hsi. »Was sind die fünf wichtigsten Tugenden des Konfuzius?«
»Die fünf Tugenden sind … äh …« Hsi schluckte; dann stieß er hervor: »Was nützen mir die Tugenden des Konfuzius, wo ich Soldat werden will!«
»Gib deinem Lehrer nicht so freche Antworten«, rief Liu Yun, der stets der brave und strebsame Sohn sein wollte, den seine Eltern sich wünschten. Außerdem hatte er Hsi heimlich Nachhilfe erteilt; das Versagen seinen Bruders ließ auch Liu Yuns Leistungen in schlechtem Licht erscheinen.
Lehrer Wu schlug Hsi mit dem Zeigestock auf den Kopf. »Entschuldige dich für dein rüpelhaftes Benehmen!«
Als Hsi zu schluchzen anfing, schlugen Lius Gefühle ins Gegenteil um. Er hatte oft versucht, Hsi Vernunft einzubleuen, aber dass irgendein Fremder seinen jüngeren Bruder schlug, konnte er nicht ertragen. Ein unsichtbares Band – stärker als die Liebe, der Hass oder die Bande des Blutes – bestand zwischen den beiden Brüdern. Liu Yun schnellte vom seidenen Kissen empor, auf dem er saß, sprang auf Lehrer Wus Rücken, schlug auf den alten Mann ein und rief: »Lass ihn in Ruhe!«
Lehrer Wu kreischte und versuchte, das Gleichgewicht zu wahren und Liu Yun abzuschütteln, während Hsi lachte und in die Hände klatschte.
»Was für ein guter, tapferer Kämpfer du bist, älterer Bruder!«, rief er. »Lass uns von zu Hause fortlaufen und Soldaten werden!« Und wenngleich Liu Yun über sich selbst und sein Benehmen entsetzt war, schrie er seinen wilden Triumph heraus.
Doch der Sieg der Brüder war nur von kurzer Dauer. Der alte Wu kündigte, und Liu Yuns Vater verprügelte seine Söhne und stellte einen neuen Lehrer ein …
Abt Liu Yun erkannte, dass wieder eine der Nächte vor ihm lag, da er weder meditieren noch schlafen konnte. Denn in dieser Nacht
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