Die Spur des Verraeters
Zum zweiten Mal verließ er die Villa und ging in Richtung Hafen.
Ein bleicher Mond stand über dem Meer; seine Ränder verschwammen in der diesigen Luft. Auf einer Schaluppe draußen auf See und im Wachhaus der Hafenpatrouille brannten Laternen. Die Männer der städtischen Nachtwache patrouillierten an den Lagerhäusern vorüber; ihre hölzernen Klappern übertönten das Rauschen des Meeres mit ihrem scharfen Geräusch, das besagte: alles in Ordnung. Wachmänner gingen an der Hafenpromenade und den Anlegestellen Streife. Soldaten fuhren Ochsenkarren durch die Stadt, die mit Kanonen und Munition beladen waren, um für eine mögliche Schlacht mit dem holländischen Schiff gewappnet zu sein. Sano hielt sich unauffällig im Hintergrund und blieb in den Schatten unter den vorstehenden Dächern geschlossener Läden und Teehäuser, während er sich langsam zu der langen Brücke vorarbeitete, die nach Deshima führte. Er wusste nicht, wer auf der Insel in schmutzige Geschäfte verwickelt war; deshalb durfte er niemandem vertrauen.
Als er noch hundert Schritt vom Wachhaus entfernt war, rannte Sano los, stürmte über die Straße, eilte zwischen zwei Lagerhäusern hindurch und über einen dunklen Fußweg bis zu einer Stelle am Strand, wo ein Kai weit ins Meer ragte – die letzte Anlegestelle vor der Brücke nach Deshima. Aus dieser Deckung heraus hatte Sano einen ungehinderten Blick auf die Schleusentore der Insel. Sano schaute sich um. Niemand war zu sehen. Langsam und so leise er konnte, bewegte er sich vor bis zum Ende des Kais.
Dort war ein Ruderboot an einem Holzpfosten vertäut. Das Boot schien leer zu sein; nur eine alte Decke war auf dem Boden ausgebreitet. Sano stieg in das schwankende Gefährt. Kaum hatten seine Füße die Decke berührt, als sie sich plötzlich unter ihm bewegte. Sano unterdrückte einen erschreckten Aufschrei, sprang mit einem mächtigen Satz aus dem Boot bis auf den Steg hinauf und zog sein Schwert. Verdutzt beobachtete er, wie unter der Decke eine menschliche Gestalt zum Vorschein kam. Das bleiche Mondlicht fiel auf das Gesicht eines Mannes. Sanos Erleichterung wandelte sich in Zorn.
»Hirata! Was tust du denn hier?«, fragte Sano in angespanntem Flüsterton.
Sein junger Gefolgsmann verbeugte sich. Sano sah, dass Hirata eine jitte in der Hand hielt – einen eisernen Stab mit gekrümmten Dornen am vorderen Ende; ein geübter Kämpfer konnte mit der jitte einen Schwerthieb abfangen, ja sogar die Klinge eines Gegners zerbrechen. » Gomen nasai – verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe«, erwiderte Hirata, ebenfalls flüsternd. »Ich warte hier, weil ich eines von den geheimnisvollen Lichtern fangen will.«
»Ich habe dir gesagt, du sollst dich von Deshima fern halten.« Sano stieß sein Schwert in die Scheide zurück. »Steig jetzt aus dem Boot und mach, dass du nach Hause kommst.«
»Aber, sôsakan-sama … «
Ein lautes Klacken übertönte Hiratas Protest. Sano drehte sich um und sah ein Licht zwischen den Lagerhäusern auftauchen. Mit einem Sprung war er von der Anlegestelle herunter und bei Hirata im Ruderboot, der sofort die Decke über sich und Sano warf. Dann lagen sie angespannt in der erstickenden Dunkelheit unter der übel riechenden Decke, während die Planken des Kais unter den Schritten eines Wachmannes knarrten. Sano hoffte inständig, dass der Mann nicht das Boot inspizierte: Er würde Alarm schlagen, die geheimnisvollen Lichter wahrscheinlich verscheuchen und dafür sorgen, dass die Behörden von Sanos geheimen Nachforschungen erfuhren.
Dann aber entfernten sich die Schritte des Wachmannes. Sano seufzte vor Erleichterung. Vorsichtig krochen er und Hirata unter der Decke hervor.
»Ich lasse Euch nicht allein«, flüsterte Hirata. »Ich habe Zeugen gefunden, die Abt Liu Yun in der Nacht, als Direktor Spaen verschwand, in der Nähe des Hafens gesehen haben. Die Leute in der Stadt sagen, dass Liu Yun ein mächtiger Magier ist, der an Festtagen auf dem Marktplatz öffentlich seine Zauberkräfte zeigt. Vielleicht hat er die Lichter herbeigerufen. Und wenn er der Mörder ist, dürft Ihr ihm nicht allein gegenübertreten!«
»Der Abt wurde in der Mordnacht am Hafen gesehen?«, fragte Sano aufgeregt. Damit hatte er einen weiteren Beweis gegen Liu Yun, der ja zum Kreis der Verdächtigen zählte. Vielleicht hatte Liu Yun auch Pfingstrose getötet und einen Selbstmord vorgetäuscht, indem er den gefälschten Abschiedsbrief hinterließ. Doch wie dem auch sei – Hirata musste
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