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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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haben konnten. Liu Yun blätterte im Buch der Veränderungen, bis er das K’an-Hexagramm gefunden hatte.
    »Wie ein Abgrund, der von reißendem Wasser durchströmt wird, liegt Gefahr vor dir«, las er laut. »Das Ergebnis, das du herbeisehnst, kommt vielleicht niemals zu Stande.« Bei der Vorstellung, die zwei Jahre gewissenhafter Arbeit, die hinter ihm lagen, könnten seine eigene Vernichtung bewirkt haben, wurde Liu Yun die Kehle eng. Dann aber entdeckte er einen Hauch von Zuversicht, der sich zwar hinter weiteren Warnungen verbarg, in Liu Yuns Innerem jedoch einen Funken Hoffnung entfachte.
    »Du wirst auf große Hindernisse treffen. Doch wenn du ihnen mit Aufrichtigkeit und scharfem Verstand entgegentrittst, wirst du auf deinem Weg voranschreiten. Geduld muss deine höchste Tugend sein; dann wird letztendlich die Ordnung aller Dinge wiederhergestellt.«
    Abt Liu Yun lächelte, als er das Buch zuschlug. Er war nun von unerschütterlicher Entschlossenheit erfüllt. Die vielen Jahre als Gelehrter, im diplomatischen Dienst und schließlich als Mönch und Abt hatten seinen Verstand geschärft. Er wartete nun schon sehr lange; es spielte keine Rolle, jetzt noch ein bisschen länger zu warten. Auch der sôsakan des Shogun würde den Rachefeldzug nicht vereiteln können, den Liu Yun für seinen toten Bruder führte – und dafür, die Ordnung aller Dinge wiederherzustellen und seiner Seele Frieden zu bringen.

19.

    N
    achdem Sano erfolglos nach Zeugen des Mordes an Pfingstrose gesucht hatte, kehrte er in der Abenddämmerung nach Hause zurück. Er führte sein Pferd am Zügel, weil seine verletzte Schulter beim Reiten zu sehr schmerzte. Die Sonne stand wie eine riesige leuchtende Aprikose über dem Horizont, die ein sanftes, dunkelorangenes Licht auf das blaugrüne Meer warf, das von leichten Wellen geriffelt wurde. Über der Stadt schwebte eine zerfaserte, violette Wolkenbank, die langsam westwärts zog und an eine berittene Armee mit wehenden Flaggen erinnerte: die Legion der Nacht. Doch Sano hatte nicht die Zeit, die Schönheiten der Stadt zu bewundern, über der die tödliche Drohung der holländischen Schiffskanonen schwebte. Der erste der beiden Tage, die ihm als Frist eingeräumt waren, Kapitän Oss den Mörder Jan Spaens auszuliefern, war vorüber. Nun brauchte er erst einmal Medizin, frische Verbände für seine Pfeilwunde, ein Bad und eine Mahlzeit, bevor er erproben wollte, ob seine Theorie über die Insel Deshima zutraf. Als Sano in die Straße zur Villa einbog, zwang er sich zur Wachsamkeit – und bemerkte erst jetzt den kleinen, dicklichen Wachsoldaten, der hinter ihm her schlenderte. Beunruhigt fragte sich Sano, ob der Mann ihm schon den ganzen Tag gefolgt war. Er nahm sich vor, in der kommenden Nacht besser auf Spitzel zu achten.
    »Hirata?«, rief Sano, nachdem er die Villa betreten hatte.
    Alter Karpfen kam herangeschlurft. »Der junge Herr ist ausgegangen«, ließ er Sano wissen.
    »Wohin?«
    Alter Karpfen zuckte die Achseln. »Das hat er nicht gesagt, sôsakan-sama .«
    Heute Nacht spielt es auch keine Rolle, überlegte Sano, als er hastig eine Mahlzeit zu sich nahm, badete, sich die Wunde verbinden ließ und dann frische Kleidung anzog. Zwar hätte er brennend gern erfahren, ob Hirata herausgefunden hatte, ob das Alibi von Abt Liu Yun für die Mordnacht stimmte. Außerdem hätte Hirata als Nächstes überprüfen sollen, wo Liu Yun und der Händler Urabe gewesen waren, als Pfingstrose ermordet worden war. Aber das musste warten. Heute Nacht wollte Sano endlich das Geheimnis der gespenstischen Lichter ergründen, und dabei konnte er Hirata nicht gebrauchen.
    Als er die Straße hinunter in Richtung Hafen ging, prickelte ihm vor Anspannung die Haut im Nacken. Irgendjemand folgte ihm – jemand, der geschickter war als der kleine, dickliche Wachsoldat, den Sano vorhin so rasch entdeckt hatte. Sano kehrte in die Villa zurück und fand Alter Karpfen in der Küche. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte Sano.
    Kurze Zeit später beobachtete er von einem Fenster im Obergeschoss, wie draußen vor dem Tor eine Sänfte abgesetzt wurde. Alter Karpfen, der Sanos Umhang mit dem eingestickten Wappen der Tokugawa, ein Paar Samurai-Schwerter und einen breitkrempigen Hut trug, der sein Gesicht verbarg, stieg in die Sänfte. Die Träger wuchteten sich die Stangen auf die Schultern und eilten in Richtung Hügelland davon. Eine schattenhafte Gestalt schlüpfte aus einer Seitengasse und folgte der Sänfte. Sano lächelte.

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