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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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hatten die Provinzen Ssuchúan und Fukien erobert. Hungersnöte und Bauernaufstände erschütterten das Land. Hsi wurde verwundet, erholte sich wieder und wurde zum General befördert. Einige Zeit später wurde er als vermisst gemeldet und galt als tot. Eines Tages aber erfüllte sich Hsis Prophezeiung, dass die Brüder sich wiedersehen würden.
    Ein aufständisches Bauernheer griff Peking an. Die schwache, korrupte Ming-Regierung konnte diesem Ansturm nicht standhalten. In ihrer Verzweiflung baten die Bürokraten sogar den Todfeind, die Mandschuren, den Bauernaufstand niederzuschlagen; dafür überließen sie ihnen die Hauptstadt. So kam es, dass mandschurische Truppen in die Verbotene Stadt einmarschierten und die nur mit Knüppeln bewaffnete Bauernarmee niedermetzelten.
    Als Liu Yun und andere Beamte der Ming – nun unter mandschurischer Herrschaft – Akten aus einem brennenden Palast retteten, hatte Liu Yun beim Klang einer vertrauten Stimme aufgeblickt. Das Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. An der Spitze eines Heeres kam sein totgeglaubter Bruder auf den Hof geritten. Hsi und seine Männer trugen noch immer die Wappen und Abzeichen der Ming. »Hsi!«, rief Liu Yun, von einer Woge der Freude überschwemmt. »Du lebst!«
    Dann beobachtete er entsetzt, wie Hsis Truppen die Mandschuren angriffen. »Was tust du, jüngerer Bruder!«
    Das blutige Schwert erhoben, wandte Hsi sich Liu Yun zu, während um sie herum die Schlacht tobte. »Die gleiche Frage könnte ich dir stellen, älterer Bruder.« Auf Hsis ernstem Gesicht spiegelte sich kein bisschen Freude darüber, Liu Yun nach so langer Zeit wiederzusehen. »Wie kannst du den Hurensöhnen dienen, die unsere Eltern abgeschlachtet und unser Land gestohlen haben?«
    »Der Krieg ist zu Ende, jüngerer Bruder«, sagte Liu Yun, den Hsis Feindseligkeit tief schmerzte. »Die Mandschuren haben gesiegt. Jetzt sind sie die Söhne des Himmels, nicht mehr die Ming. Gib den Kampf auf, Hsi.«
    »Du Feigling! Narr! Du bist nicht mehr mein Bruder!« Als weitere mandschurische Soldaten auf den Hof stürmten, wandte Hsi sich von Liu Yun ab und rief seinen Männern Befehle zu.
    Binnen weniger Tage hatten die Mandschuren die aufständischen Bauern bis auf den letzten Mann getötet. Mit der Besetzung Pekings beendeten die Mandschuren ihre Eroberung Chinas. Liu Yun und seine Kollegen stellten sich in den Dienst der neuen Herrscher, denen nunmehr ihre Treue und Ergebenheit galt. Unter den neuen Ching-Kaisern stieg Liu Yin bis zum Minister für ausländische Angelegenheiten auf. Er heiratete, zeugte Kinder. Später, als seine Frau gestorben und die Söhne erwachsen waren, legte er das geistliche Gelübde ab und begann seine zweite Laufbahn als Priester in Übersee. Er versuchte den Bruder zu vergessen, der ihn verschmäht hatte. Nach ihrer Begegnung an dem belagerten Palast in Peking hatten sie einander nie wieder gesehen.
    Doch Liu Yun hatte die tollkühnen Heldentaten seines Bruders verfolgt: Die Siege von Hsis Rebellenarmee bei Amoy und Quemoy; die Plünderung Chekiangs; die Niederlage bei Nanjing und die Flucht nach Taiwan – bis dann die Nachricht von Hsis Tod kam, der durch die Hand der Barbaren gestorben war.
    Vor zwei Jahren schließlich hatte das Schicksal Liu Yun und Jan Spaen in Japan zusammengeführt, wo der Abt sich dann seinen Plan zurechtgelegt hatte. Er wusste von Spaens Gier und seinem Ehrgeiz – und er kannte Japaner, die diese Eigenschaften mit dem Holländer teilten. Endlich hatte Liu Yun die Möglichkeit gesehen, Rache für Hsi zu nehmen. Jan Spaen war tot, doch Liu Yuns Rachedurst war längst nicht gestillt. Wenngleich Hsi nicht mehr lebte, bestand das unsichtbare Band zwischen den Brüdern noch immer, und nur der eigene Tod konnte Liu Yun wieder mit Hsi vereinen. Deshalb beschloss der Abt, seinen Plan weiterzuführen und seine Rache auszuweiten …
    Liu Yun beendete das Ritual und zeichnete die sechste und letzte Linie auf das Blatt – und schnappte erschreckt nach Luft, als er das vollständige Muster sah, die Entscheidung des Orakels:
     

     
    Hexagramm neunundzwanzig. K’n, die Gefahrvolle Kluft, die Liu Yun Böses verhieß, falls er seinen Plan weiterverfolgte.
    Das Entsetzen lag wie eine eisige Hand um sein Herz, als Liu Yun das ›Buch der Veränderungen‹ aufschlug. Das Orakel sprach in versteckten Andeutungen, und jede Linie, die Liu Yun aufs Papier gezogen hatte, enthielt Schattierungen, die einen gewissen Einfluss auf die Entscheidung des Orakels

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