Die Spur des Verraeters
würde ihn nicht nur Trauer plagen, sondern auch Besorgnis: Der sôsakan des Shogun stellte Ermittlungen über den Mord an Jan Spaen an, und Liu Yun befürchtete, dass seine Aussagen genaueren Nachforschungen ebenso wenig standhalten konnten wie sein Alibi. Überdies hatte er sich auf ein gefährliches Unternehmen eingelassen, das ihm entweder größte Genugtuung verschaffte oder in einer Katastrophe endete.
Wie würde es enden? Liu Yun wollte endlich die Antwort wissen.
Die Lampe in der Hand, ging er in sein Studierzimmer. Von einem der Regale, auf denen heilige Texte und Dokumente über die Verwaltung des Tempels untergebracht waren, nahm Liu Yun einen zylinderförmigen Behälter aus Lackarbeit, dazu Weihrauch, Schreibzeug und ein Buch, in schwarze Seide eingewickelt. Er wollte das I Ching befragen – das Orakel der Veränderungen, das die Geheimnisse des Universums offenbarte und seit viertausend Jahren von chinesischen Philosophen, Staatsmännern, Kriegsherrn und Gelehrten benutzt wurde.
Liu Yun breitete die Seide auf dem Tisch aus; dann legte er das »Buch der Veränderungen« darauf, jenen uralten Text, der die Botschaften des Orakels deutete, und verbeugte sich drei Mal davor. Er öffnete das Tuschefässchen und legte Papier und Schreibpinsel bereit. Dann entzündete er die Weihrauchbrenner. Als der süßliche Rauch zur Decke stieg, setzte Liu Yun sich an den Tisch, öffnete den Behälter aus Lackarbeit und schüttelte fünfzig Stängel Schafgarbe heraus. Schließlich stellte er dem Orakel seine brennende Frage:
»Soll ich mit meinem Vorhaben weitermachen?«
Er vollführte das komplizierte Ritual, die Stängel zu zählen, aufzuhäufen, zu trennen und immer wieder neu zu ordnen, bis sie schließlich drei kleine Häufchen bildeten. Dann zeichnete Liu Yun eine unterbrochene Linie aufs Papier, die der Zahl der aufgehäuften Stäbchen entsprach. Anschließend wiederholte er den Vorgang. Seine Hände bewegten sich wie von selbst, während seine Gedanken aufs Neue in die Vergangenheit schweiften.
Er sah sich und seinen Bruder als junge Männer – den hoch gewachsenen, kräftigen Hsi und sich selbst, den zartgliedrigen, kultivierten Gelehrten –, wie sie unter dem herbstlichen, goldenen Blätterwerk der Bäume über eine Landstraße gingen. Die Brüder kamen aus der Provinzhauptstadt zurück, wo sie die kaiserlichen Prüfungen für die Beamtenlaufbahn abgelegt hatten, die über ihrer beider Zukunft entschieden.
»Es ist mir egal, dass ich bei diesen lächerlichen Prüfungen durchgefallen bin.« Zornig trat Hsi einen Stein in den Graben neben der Straße.
»Aber was soll jetzt aus dir werden?«, erwiderte Liu Yun. »Jetzt bekommst du kein Regierungsamt.«
Hsi blieb stehen und starrte Liu Yun wütend an. »Wie oft muss ich es dir noch sagen, älterer Bruder! Ich will Soldat werden, nicht Beamter. Und was die Prüfungen angeht – du hast ja bestanden und die Ehre der Familie gerettet.«
»Leg die Prüfungen noch einmal ab, Hsi«, flehte Liu Yun. Seit ihrer Kindheit hatte er davon geträumt, zusammen mit Hsi in derselben Regierungsbehörde zu arbeiten. »Ich gebe dir Unterricht und werde dich darauf vorbereiten. Beim nächsten Mal hast du mehr Erfolg. Bitte …«
Hsi packte Liu Yuns Schulter. »Hör zu. Bald wird es Krieg geben. In der Provinzhauptstadt habe ich gehört, dass die Mandschuren bereits die Provinzen Shensi und Hunan erobert haben. Irgendwann werden sie in Peking einmarschieren. Ich will in die kaiserliche Armee eintreten und unsere Heimat von diesem fremdländischen Abschaum befreien.« An seinem Kindheitstraum, ein Leben als Soldat zu führen, hatte sich nichts geändert.
Liu Yun hatte die Nachrichten von den Eroberungen der Mandschuren als gewaltige Übertreibungen bezeichnet. »Die Ming-Kaiser haben China fast dreihundert Jahre lang regiert. Niemals wird es irgendwelchen Stämmen aus dem Norden gelingen, Peking zu erobern. Und Vater wird dir sowieso nicht gestatten, in die Armee einzutreten. Ich auch nicht!«
Hsi schwang sich sein Bündel über die Schulter und ging mit raschen Schritten weiter. Liu Yun beeilte sich, zu seinem Bruder aufzuschließen. »Kein Herrscher ist unbesiegbar, älterer Bruder«, erwiderte Hsi. »Soviel habe ich über die Geschichte gelernt, auch wenn ich die Prüfung nicht bestanden habe.« Plötzlich blieb er stehen und wies mit der Hand nach vorn. »Was ist das?«
Über einem Hügel stieg schwarzer Rauch auf. Die Brüder rannten los. Sie sahen, dass das
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