Die Spur des Verraeters
in Nagasaki waren die Magistraten zweifellos die Marionetten des Kammerherrn Yanagisawa, sodass Sano keine Gerechtigkeit und Nachsicht von ihnen erwarten durfte. Beinahe konnte er jetzt schon das Gewicht der Eisenketten an seinen Hand- und Fußgelenken spüren, sah vor dem geistigen Auge die Soldaten, die ihn zum Hinrichtungsplatz führten, hörte das Zischen des Schwertes, das seinen Kopf vom Rumpf trennen würde …
»Eine solche Scharade werde ich mir nicht gefallen lassen!«, platzte es aus ihm heraus.
»Nun ja.« Statthalter Nagai zuckte mit den breiten Schultern. »Zu meinem Bedauern muss ich Euch mitteilen, dass Ihr keine andere Wahl habt. Überdies entbinde ich Euch hiermit von der Verantwortung für die Nachforschungen in den Mordfällen.«
»Aber ich mache endlich Fortschritte!«, protestierte Sano. »Und falls ich dem Kapitän des holländischen Schiffes nicht binnen zweier Tage den Kopf des Mörders von Jan Spaen bringe, wird er Nagasaki mit seinen Bordkanonen angreifen. Ihr müsst mir erlauben, dass ich …«
»Das alles geht Euch nichts mehr an«, unterbrach Nagai ihn schroff. »Hier geht es um Euer eigenes Schicksal. Bis zum Beginn des Tribunals werdet Ihr vorübergehend die Freiheit genießen, die einem Mann Eures hohen Ranges als Samurai und Gesandter des Shogun unter den gegebenen Umständen zusteht. Aber versucht gar nicht erst, aus der Stadt zu fliehen oder Deshima zu betreten, um Verbindung mit den Barbaren aufzunehmen! Wir werden Euch im Auge behalten.«
Als die Wachen Sano aus dem Saal führten, drehte er sich noch einmal um und warf Nagai, Iishino und Ohira einen letzten zornigen Blick zu. »Damit kommt ihr nicht durch!«, stieß er hervor.
Dann schloss sich die Schiebetür hinter Sano und verwehrte ihm die Sicht auf die drei Männer, die nun seine Feinde waren – und seine Hauptverdächtigen im Mordfall Jan Spaen.
21.
B
ei Tagesanbruch kehrte Sano, eskortiert von den Männern des Statthalters, zur Villa zurück und stellte fest, dass draußen vor dem Tor Truppen lagerten. Weitere Soldaten eilten im Inneren des Gebäudes über die Flure; in der Empfangshalle hatte der befehlshabende Offizier die verängstigte Dienerschaft antreten lassen.
»Wo ist Hirata?«, brüllte er sie an. »War er hier? Redet, oder ich lasse euch hinrichten!«
Sano eilte auf seine Zimmer, von Sorge und Erleichterung zugleich erfüllt. Hirata war noch immer auf freiem Fuß! Aber wie lange noch? Kam er überhaupt mit dem Leben davon?
Reumütig dachte Sano daran, wie er diese Katastrophe hätte verhindern können. Er hätte die Ermittlungen nach dem schriftlichen Geständnis Pfingstroses in ihrem Abschiedsbrief einstellen und die geheimnisvollen Lichter ignorieren sollen. Er hätte nicht an Bord des holländischen Seglers gehen dürfen, hätte nicht die Bekanntschaft Dr. Huygens’ und Abt Liu Yuns suchen sollen. Er hätte diesen Auftrag gar nicht erst annehmen sollen! Nun bereute Sano, dass er sich von seinen inneren Zwängen zu überstürztem Handeln hatte treiben lassen. Aber jetzt hatte er diese Sache angefangen und war entschlossen, sie weiterzuführen, so lange ihm noch Zeit blieb …
Er zog den Pass hervor, der ihm den Zugang nach Deshima erlaubte. Zum Glück hatte bisher niemand diesen Pass entdeckt; Sano trug ihn bei sich, seit er ihn bekommen hatte. Er wollte sich nicht weiteren Anklagen wegen Verrats aussetzen, indem er sich unerlaubt zu den Barbaren auf Deshima begab, doch um Hirata und sich selbst zu entlasten, musste er noch einmal mit den Holländern sprechen. Er musste die Feinde besiegen, die ihm seine angeblichen Verbrechen angehängt hatten! Er musste dem Tribunal beweisen, dass er aus lauteren Motiven gehandelt und lediglich das Ziel verfolgt hatte, den Mörder Jan Spaens zu finden, und dass dieser Mörder zu der Bande von Schmugglern gehörte – den wahren Verrätern –, deren Versteck er und Hirata im Zuge ihrer Nachforschungen entdeckt hatten. Nur wenn Sano das gelang, würde er seine Freiheit zurückbekommen und seine Ehre wiederherstellen. Außerdem fühlte er sich dafür verantwortlich, die Gefahr eines Krieges mit den Holländern abzuwenden. Um diese Ziele zu erreichen, wollte Sano von vorn anfangen, damit beginnen, die Barbaren auf Deshima ein zweites Mal zu vernehmen. Nach den neuesten Entwicklungen waren sie wieder zu Tatverdächtigen im Mordfall Jan Spaen geworden – und mit Sicherheit waren die Holländer an den Schmuggelgeschäften beteiligt.
»Herr, Herr!« Alter Karpfen
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