Die Spur des Verraeters
Katastrophe heraufbeschworen hatten.
Nagai warf Sano einen raschen Blick zu. »Meine Familie hat seit Generationen hohe militärische Führer hervorgebracht«, sagte er. »Selbst in Friedenszeiten betrachten wir die Kriegskunst als wichtiges Wissensgebiet, weil die Politik und der Krieg viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Meint Ihr nicht auch?«
Sano nickte und fragte sich, worauf der Statthalter hinauswollte.
»In meiner Jugend habe ich die Schriften eines meiner Ahnen studiert, General Noriyama, der vor mehr als dreihundert Jahren gelebt hat, zur Zeit des Ashikaga-Shogunats. Sein Wahlspruch lautete: ›Wer die Äste angreift, schwächt auch den stärksten Baum.‹ Was er damit meinte, hat er beim Feldzug gegen einen verfeindeten General gezeigt. Statt seinen Gegner zu töten, ließ er dessen Familie als Geiseln nehmen und raubte seinem Widersacher auf diese Weise die Handlungsfreiheit. Ein kühner Streich. Und nicht nur die Idee war brillant, auch die Ausführung. Denn General Noriyama nahm die Geiseln nicht selbst gefangen, sondern übertrug seinen Offizieren diese Aufgabe. Auf diese Weise vermied er persönliche Konsequenzen, sollte die Geiselnahme fehlschlagen. Außerdem ging er der Gefahr aus dem Weg, gegenüber dem Shogun den Eindruck zu großer Machtgier zu erwecken.«
Sano nickte. Er hatte die Warnung verstanden. Sollte er versuchen, Nagai anzugreifen, würden seine Mutter, seine Tanten, seine Onkel und Vettern von Vertrauten des Statthalters getötet. Außerdem hatte Nagai sich genau wie sein Ahnherr Noriyama abgesichert, falls das Komplott gegen Sano fehlschlug und der bakufu sich jemals eingehender dafür interessieren sollte, wie der Statthalter Sanos Fall gehandhabt hatte. Und wenn das Tribunal Sano für unschuldig befand, konnte Nagai seinen Untergebenen die Schuld zuschieben und auf diese Weise einer persönlichen Bestrafung aus dem Weg gehen.
»Ich verstehe nicht, weshalb Ihr überhaupt noch Interesse an den Problemen unseres Landes zeigt«, fuhr Nagai schließlich fort, »wo Eure Tage doch gezählt sind.«
Von all seinen Feinden hasste Sano keinen so sehr wie Nagai, denn dieser Mann war in seinen Augen ein Symbol für die Verlogenheit, Selbstsucht und Verderbtheit der Führungsschicht des bakufu . Doch Sano ließ sich seine Gefühle nicht anmerken. Er wusste, dass er Nagais Schwächen zum eigenen Vorteil nutzen konnte, wenn er sein Ziel fest im Auge behielt.
»An Eurer Stelle wäre ich mir da nicht zu sicher, ehrenwerter Statthalter«, sagte er mit ruhiger Stimme, während das Kriegsschiff die grauen Wellen durchpflügte und sich dem holländischen Segler immer weiter näherte. »Ich habe heute mit Kiyoshi, Dolmetscher Iishino und Kommandant Ohira gesprochen. Je genauer man sich meine angeblichen Verbrechen anschaut, um so deutlicher ist zu erkennen, dass ich unschuldig bin. Schließlich ist keiner der Zeugen völlig unvoreingenommen, absolut glaubwürdig oder über jeden Zweifel erhaben, was eine mögliche Beteiligung an den Morden und dem Schmuggelgeschäft angeht. Das wird dem Tribunal nicht entgehen.«
»Ach, ja?« Nagais Miene blieb gelassen.
»Nehmen wir zum Beispiel Kiyoshi«, fuhr Sano fort. »Seine Aussage bringt mich zwar mit dem Schmuggelgeschäft in Verbindung, aber der Junge hat den Verstand verloren. Das Tribunal wird jede seiner Aussagen anzweifeln. Da liegt doch der Schluss nahe, dass Kiyoshi mit seinen Anschuldigungen mir gegenüber gelogen hat, um jemanden zu schützen, zu dem er enge berufliche oder private Bindungen besitzt.«
Jemanden wie Euch , Statthalter , schwang in Sanos Stimme mit. »Oder nehmen wir Iishino. Er war als einziger Dolmetscher zugegen, als ich mit den Barbaren gesprochen habe. Seine Aussage, was angeblich zwischen mir und den Holländern gewesen ist, kann durch nichts bewiesen werden. Weil Iishino fließend Holländisch spricht, ist er derjenige, bei dem sich am ehesten der Verdacht aufdrängt, mit den Barbaren gemeinsame Sache gemacht zu haben oder in so heftige Streitigkeiten geraten zu sein, dass es nun zu Gewalttätigkeiten kommt.«
»Nun ja.« Die Rüstung verlieh dem sonst so jovialen Nagai etwas Bedrohliches. »Dolmetscher Iishino und Kommandant Ohira sind hoch geachtete Männer und äußerst glaubwürdige Zeugen. Ihre Dienstakten sind makellos.«
Was nichts anderes bedeutete, als dass Iishino und Ohira an ihren Aussagen festhielten und dass es zwecklos war, wenn Sano ihnen Voreingenommenheit oder eidliche Falschaussagen vorwarf. Ihr guter Ruf
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