Die Spur des Verraeters
Landsmann als Mörder bestraft wurde.
Sano dachte an die Holländer, die wie Gefangene auf Deshima lebten und viel Zeit und Gelegenheit hatten, Hass aufeinander zu entwickeln. Wenn er einem dieser Barbaren den Mord an Jan Spaen nachweisen konnte, bewahrte er Hirata und sich selbst vor Schande und Tod …
Aber konnte er den wahren Mörder der Gefahr eines Krieges wegen ungestraft davonkommen lassen, falls dieser Mörder tatsächlich ein Japaner war?
6.
S
umimasen – Verzeihung«, sagte Hirata, der neben Sano eine steinerne Treppe hinaufstieg, die vom Strand zur Uferpromenade führte, eine breite Straße, die auf einem steinernen Damm verlief, der am Hafen Nagasakis entlang führte. Nach einem Moment des Zögerns platzte Hirata heraus: »Es ist eine schwierige Aufgabe, in einer fremden Stadt einen Mörder zu suchen. Ihr müsst mir erlauben, Euch zu helfen!«
Sano hatte damit gerechnet, dass sein leidenschaftlicher junger Gefolgsmann seine Bitte wiederholen würde, an den Nachforschungen beteiligt zu werden. Aus irgendeinem persönlichen Grund, den Sano nicht kannte, war Hirata regelrecht besessen vom Bushido, von der Treue und Hingabe eines Samurai gegenüber seinem Herrn. Sano spürte, dass Hirata noch etwas hinzufügen wollte; deshalb schwieg er und wartete. Sie kamen an Lagerhäusern und Läden vorüber, an patrouillierenden Soldaten und Fischern, die Eimer voller Kalmare und Tintenfische trugen. Schließlich fuhr Hirata fort.
»Wie Ihr wisst, habe ich große Erfahrung auf dem Gebiet der Ermittlungsarbeit«, sagte er, wobei Fältchen auf seiner Stirn erschienen – wie immer, wenn es um ernste Dinge ging. In solchen Augenblicken bekam Sano eine ungefähre Ahnung, wie Hirata als alter Mann aussehen würde. »Ich kann Beschattungen vornehmen, Verdächtige verhören, Alibis überprüfen …«
»Hirata!«, sagte Sano mit erhobener Stimme, die den jungen Mann augenblicklich zum Schweigen brachte. Dann fuhr er ruhiger fort: »Ich kenne deine Fähigkeiten. Aber dieser Fall ist gefährlich. Und ich will dich nicht mit in den Abgrund reißen, sollte ich versagen.«
»Aber es ist meine Pflicht, Euch immer und überall zur Seite zu stehen«, widersprach Hirata. »Ich …« Er verstummte, holte tief Luft. »Vorhin erst, als ich in der Stadt war, habe ich herausgefunden, dass um die Insel Deshima herum irgendetwas Seltsames vor sich geht. Die Stadtbewohner haben geheimnisvolle Lichter gesehen. Außerdem gibt es einen chinesischen Priester, der die Holländer abgrundtief hasst. Dieser Priester betreibt Zauberei, sagen die Leute. Vielleicht hat er mit dem Verschwinden oder der Ermordung von Direktor Spaen zu tun.«
Das war eine interessante und möglicherweise sachdienliche Information. Doch die Neuigkeit, dass Hirata auf eigene Faust Nachforschungen angestellt hatte, traf Sano wie ein Schlag in den Magen. »Du hattest deine Befehle!«, sagte er zornig – eine Wut, die aus der Sorge um seinen Gefolgsmann geboren war. »Du solltest dich in der Stadt amüsieren und keine Untersuchungen anstellen, als hätte ich dich dazu ermächtigt!«
Auf Hiratas Gesicht spiegelte sich Enttäuschung, doch er antwortete tapfer: »Ich bin bloß ein wenig herumgeschlendert und habe mich mit den Leuten unterhalten. Ich war nicht ungehorsam.«
»Aber du hast dem Sinn meines Befehls zuwidergehandelt, und das weißt du.« Angesichts der Ironie dieser Situation hätte Sano beinahe aufgelacht. Ausgerechnet er, der so oft die Befehle Vorgesetzter missachtet hatte, weil er seine eigene Meinung vertrat, wies nun einen anderen Mann zurecht, der das Gleiche getan hatte. In vieler Hinsicht waren Sano und Hirata sich sehr ähnlich. Beide besaßen ein ausgeprägtes Ehrgefühl, beide liebten die Gefahren und Herausforderungen der Polizeiarbeit – und beide waren ausgesprochen dickköpfig. »Entweder du gehorchst«, fuhr Sano fort, »oder ich schicke dich nach Edo zurück.«
Hiratas Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Das würdet Ihr nicht tun.«
Sie erreichten das Wachhaus, ein langes Gebäude mit Bretterwänden, Ziegeldach und vergitterten Fenstern, das auf einem kiesbedeckten Platz auf dem Festland errichtet war, am Fuß der Brücke, die hinüber zur Insel Deshima führte. Dolmetscher Iishino wartete allein vor dem Wachhaus; Kommandant Ohira befand sich offenbar schon in dem Gebäude.
»O doch, Hirata«, erwiderte Sano mit fester Stimme, »falls nötig, würde ich dich zurück nach Edo schicken.« Auch wenn es ihm schwer fiel – der Wunsch
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