Die Spur des Verraeters
nach Hiratas Hilfe und Gesellschaft durfte ihn in seiner Entschlossenheit nicht wankend werden lassen. »Und jetzt geh auf unser Quartier, und bleibe dort.«
»Reicht mir bitte Euren Beutel, sôsakan-sama . Und dann stellt Euch mit gespreizten Armen und Beinen vor mich hin.«
Im Wachhaus vor der Brücke löste Sano den Beutel von seiner Schärpe, reichte ihn dem Soldaten und stellte sich so hin, wie der Mann es verlangt hatte. Der Wachsoldat legte den Beutel zur Aufbewahrung in einen Schrank. Dann hängte er Sanos hölzernes Namensschild, das als Pass für den Zugang zur Insel Deshima diente, an ein mit Nägeln versehenes Brett; Sano hatte diesen Pass zuvor von Statthalter Nagai erhalten. Ein anderer Posten durchsuchte Sano nach Gegenständen, die er den Holländern unerlaubt überbringen konnte: Geld, Waffen, geheime Botschaften und dergleichen. Andere Wachsoldaten unterzogen Dolmetscher Iishino derselben Prozedur. Niemand, nicht einmal der höchste Beamte Nagasakis, war über jeden Verdacht erhaben.
Die tastenden Hände des Postens erreichten Sanos Schärpe. Es kostete Sano alle Mühe, nicht zusammenzuzucken, als die Finger des Mannes jene Stelle berührten, an der Sano den Brief Dr. Itos an den holländischen Arzt aufbewahrte. Sano hoffte, dass das dünne, weiche Reispapier in den Stoffalten der Schärpe nicht zu ertasten war. Mit vorgetäuschtem Gleichmut ließ Sano den Blick durch das Wachhaus schweifen. An den Wänden hingen Seile und eiserne Ketten und Holzknüppel, um Holländer, die von der Insel zu fliehen versuchten, zurückzutreiben oder zu fesseln – oder um Japaner, die Deshima unerlaubt betreten wollten oder sich als Verräter erwiesen hatten, gefesselt zum Hinrichtungsplatz zu führen.
Sano unterdrückte einen erleichterten Seufzer, als der Wachsoldat schließlich sagte: »In Ordnung. Ihr dürft hinüber nach Deshima.«
Von Dolmetscher Iishino und zwei Posten begleitet, verließ Sano das Wachhaus. Eine lange steinerne Brücke überspannte das Meer, das im Licht der Spätnachmittagssonne eine tiefe, blaugrüne Farbe angenommen hatte. Weitere Wachsoldaten, die in regelmäßigen Abständen Posten bezogen hatten, verbeugten sich, als Sano und Iishino an ihnen vorüberkamen. Vor ihnen erhob sich der gewaltige Palisadenzaun, der die Insel umschloss, aus seinem mit Algen und Muscheln bewachsenen, felsigen Fundament; über den Pfählen des Zauns waren die Strohdächer der Gebäude und die im Wind wogenden Fichten auf dem Gelände der holländischen Faktorei zu sehen.
»Ich arbeite nun seit neun Jahren mit den Barbaren zusammen, sôsakan-sama , seit neun Jahren!« Dolmetscher Iishino drängte sich dicht an Sanos Seite. »Wenn Ihr irgendetwas über sie wissen wollt, braucht Ihr mich nur zu fragen.«
Sano verlangsamte seine Schritte. Der Forscher und Gelehrte in ihm konnte es kaum erwarten, den Holländern zu begegnen und Deshima zu sehen, doch er fühlte sich der Aufgabe, die Barbaren zu vernehmen, in keiner Weise gewachsen. Die Auseinandersetzung an Bord des holländischen Schiffes hatte sein Vertrauen in seine eigene Stärke und die seines Heimatlandes erschüttert, und er bereute jetzt schon seine Naivität, die ihn zu der Überzeugung verleitet hatte, die Ermittlungen im Mordfall Jan Spaen abschließen zu können – Ermittlungen, bei denen Sano Erfolg haben musste , wollte er nicht seine Ehre und sein Leben verlieren.
Schließlich gelangten sie zum eisenbeschlagenen Tor. Die Wachen schlugen mit den Fäusten gegen das Holz, und das Tor schwang auf. Drinnen stand Ohira, der Kommandant der Wachmannschaft auf Deshima, flankiert von zwei Wachsoldaten.
» Sôsakan-sama .« Kommandant Ohira verbeugte sich. »Willkommen auf Deshima.« Die steife Begrüßung war ohne Wärme und Herzlichkeit. Ohira sah noch kränklicher aus als in der Villa von Statthalter Nagai: Die Gesichtsknochen stachen noch deutlicher hervor, die Wangen schienen noch tiefer eingesunken, und die Ringe unter den Augen waren noch dunkler. Seltsamerweise schien der Mord an Direktor Spaen einen größeren körperlichen Tribut von Ohira gefordert zu haben als das Verschwinden des Barbaren, obgleich mit Spaens Tod die Bedrohung für Japans Sicherheit geendet hatte – und damit die Gefahr einer Bestrafung für Ohira und seine Leute auf Deshima. »Ich erwarte Eure Anweisungen.«
Um Zeit zu gewinnen, erwiderte Sano: »Bevor ich zu den Barbaren gehe, möchte ich mir die Insel anschauen.« Vielleicht fand er Hinweise darauf, wie Direktor
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