Die Spur des Verraeters
Spaen von Deshima entkommen war oder wer ihn ermordet hatte.
Ohira führte Sano und Iishino durch das Tor. Ein kurzer Durchgang, zu beiden Seiten von hohen Zäunen gesäumt, führte zur Hauptstraße der Insel. Als Sano jene Welt betrat, die er sich in seinen Träumen so oft vorgestellt hatte, stellte er fest, dass sie enttäuschend klein, aber dennoch faszinierend war. Die Straße verlief in der Längsachse der Insel; zu beiden Seiten standen zweistöckige Holzgebäude. In den unteren Etagen erblickte Sano Schiebetüren, die sich zur Straße hin öffneten, und unter den überdachten Balkonen im Obergeschoss befanden sich Reihen vergitterter Fenster. Vor jeder Tür stand ein Wachsoldat; andere patrouillierten über die Straße oder hatten auf den Dächern der Gebäude Posten bezogen. Kommandant Ohira hatte wirklich alles getan, dass die Barbaren nicht von der Insel aufs Festland gelangen konnten.
»Sind diese Gebäude schon durchsucht worden?«, fragte Sano.
»Natürlich.« Verärgerung spiegelte sich auf Ohiras verhärmtem Gesicht. »Ich versichere Euch, dass bei der Suche nach Direktor Spaen jedes Fleckchen dieser Insel inspiziert wurde. Außerdem wäre mir jeder Hinweis auf ein Gewaltverbrechen gemeldet worden. Der Vorfall ist schließlich nicht auf eine Nachlässigkeit von meiner Seite zurückzuführen. Wenn der Mörder nicht gefasst wird, trage ich keine Schuld daran.«
»Ich wollte Euch auch keinen Vorwurf machen«, erwiderte Sano rasch, wenngleich es ihn verwunderte, dass der Kommandant so empfindlich reagierte. »Falls ich diesen Eindruck erweckt habe, bitte ich um Verzeihung. Aber ich möchte gern selbst einen Blick in diese Häuser werfen und mir alles mit eigenen Augen anschauen.«
Zorn spiegelte sich auf Ohiras hagerem Gesicht, aber er nickte. Auf seinen Befehl öffneten Wachsoldaten die Türen und zeigten Sano riesige Lagerräume mit vergitterten Fenstern, die allesamt leer waren – bis auf einen, der Kisten und Säcke enthielt.
»Diese Sachen sind im vergangenen Jahr mit dem Schiff der Barbaren gekommen, wurden damals aber nicht verkauft«, erklärte Dolmetscher Iishino, wobei sein Kopf unruhig auf und nieder hüpfte. »Das Gesetz schreibt vor, dass die Waren bis zum Eintreffen des nächsten Schiffes gelagert werden müssen. Dann werden sie zusammen mit den frisch eingetroffenen Waren verkauft.«
Sano schaute sich die Lagerhäuser und die leeren Räume in den oberen Etagen an, entdeckte aber nichts Außergewöhnliches. Von Kommandant Ohiras düsteren Blicken verfolgt, setzte Sano seine Inspektion fort, bis er das östliche Ende der Straße erreicht hatte, wo ein Wachhaus stand, in dem sich weitere Posten aufhielten. Neben dem Türeingang sah Sano Eimer, Leitern und Schaufeln – die Feuerlösch-Ausrüstung – sowie ein winziges rundes Bauwerk, das mit Steinen verkleidet war.
»Eine Zisterne?«, sagte er verwundert und trat näher heran, um den möglichen Fluchtweg des Barbaren in Augenschein zu nehmen.
»Deshima wird mittels Bambusrohren mit frischem Wasser aus dem Fluss drüben auf dem Festland versorgt.« Kommandant Ohira pochte mit dem Knöchel auf einen Holzdeckel, mit dem die Zisterne verschlossen war. »Dieser Deckel wird nur geöffnet, wenn die Diener Wasser holen.«
»Gibt es außer der Brücke noch einen Zugang nach Deshima?«
»Ja. Das Schleusentor.«
Ohira führte Sano zur gegenüberliegenden Seite der winzigen Insel, an einem anderen Wachhaus vorbei und auf ein großes Geländestück, auf dem weitere Posten patrouillierten; Sano sah ein Haus mit Veranda und Balkon, zwei Hütten, ein langes, einstöckiges Bauwerk sowie zwei weitere, kleinere Gebäude mit verputzten Mauern, eisenbeschlagenen Türen und Ziegeldächern. Widerwillig erklärte Ohira, welchem Zweck jedes dieser Gebäude diente. »Das sind die Verwaltungsgebäude – meines, das von Dolmetscher Iishino und das der Vertreter des Statthalters. Außerdem der Laden, in dem die Barbaren ihre Waren an die japanischen Händler verkaufen, sowie feuersichere Lagerhäuser.«
Auf Ohiras Befehl öffneten zwei Wachen ein großes, doppelflügeliges Tor im Zaun. Sano sah eine steinerne Treppe, die bis hinunter ans Meer führte; außerdem waren – ungefähr zwanzig Schritt entfernt – zwei Schilder zu sehen, die Schiffe davor warnten, Deshima anzulaufen.
»War das Schleusentor gestern Abend geöffnet?«, fragte Sano die Wachen.
Kommandant Ohira kam den Männern zuvor. »Nein. Das Tor ist nur offen, wenn die Besatzungen
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