Die Spur des Verraeters
Schließlich aber schüttelte er den Kopf und murmelte: »Das ist hoffnungslos!«
Ohne die Hilfe eines Dolmetschers würde der Arzt niemals verstehen, was Sano von ihm wollte, und andersherum konnte auch Sano nichts von Dr. Huygens erfahren. Mehr als je zuvor vermisste Sano seinen Freund Dr. Ito, der nicht nur über die erforderlichen wissenschaftlichen Kenntnisse verfügte, sondern durch das Studium verbotener ausländischer Bücher auch die holländische Sprache erlernt hatte.
»Ich helfen meine Freund Ito«, sagte Dr. Huygens plötzlich. »Ich schauen mir Leiche von Spaen an.« Er besaß eine seltsame Aussprache, aber die Worte waren verständlich. »Vielleicht ich sehe, woran er gestorben. Wer ihn hat ermordet.«
Sano starrte den Arzt fassungslos an. »Ihr sprecht Japanisch!«
Huygens warf einen raschen Blick zur Tür und legte einen Finger auf die Lippen. Dann sagte er: »Ich seit zwei Jahre hier. Leute reden. Ich zuhören. Lernen. Jetzt ich helfen Freund. Ja?«
»Kommt!« Voller Erleichterung führte Sano den Holländer zu dem Gebäude, in dem Spaens Leiche lag. Zu den Wachsoldaten an der Tür sagte er: »Der Arzt der Barbaran wird seinen toten Landsmann jetzt für die Beisetzung vorbereiten. Bringt den Leichnam ins Behandlungszimmer.«
Die Wachsoldaten zögerten. »Kommandant Ohira hat uns gesagt, der Tote soll hier im Haus bleiben und dass wir die Barbaren von der Leiche fern halten sollen«, wandte einer der Männer ein.
»Ich übernehme die Verantwortung«, sagte Sano.
Die Wachsoldaten holten den Leichnam, der nun mit einem weißen Tuch bedeckt war, aus dem Haus und trugen ihn zu Dr. Huygens’ Behandlungszimmer, das sich in einem Gebäude unweit des östlichen Wachhauses befand. Der große Raum nahm das gesamte Erdgeschoss ein. Die Fenster gewährten den Blick nach vorn hinaus zur Straße und hinter das Haus in einen Garten. Schränke und Regale standen an den Wänden, während in der Mitte des Raumes zwei lange, hüfthohe Tische standen. Die Wachsoldaten legten Spaens Leiche auf einen dieser Tische. Bedienstete erschienen und wollten die Fensterläden öffnen.
»Nein. Macht die Lampen an.« Sano wollte keine Zeugen. »Dann bringt Wasser und Tücher.«
Die Diener gehorchten. Dann schickte Sano sämtliche Helfer und die Wachsoldaten fort, bis er und der holländische Arzt allein im Behandlungszimmer waren.
»Bitte, nehmt Ihr das Tuch von dem Toten herunter«, sagte Sano dann zu Huygens. Er hatte nicht die Absicht, den Leichnam anzufassen, sofern es nicht unbedingt erforderlich war. Jetzt schon konnte er die faulige, üble Aura des Todes wahrnehmen, die durch das weiße Tuch drang und das schummrige, heiße Innere des Behandlungsraumes verpestete.
Alle Japaner hatten Furcht vor der Berührung mit dem Tod und mit Leichen, denn sie empfanden es als spirituelle Beschmutzung – eine Furcht, die der Barbar nicht zu kennen schien, denn behutsam zog er das Tuch zur Seite und legte den verstümmelten Leichnam Spaens und die totenstarren Gliedmaßen frei. Weder der Anblick noch der Übelkeit erregende Verwesungsgeruch ließen Dr. Huygens zusammenzucken; stattdessen betrachtete er das Werk des Mörders mit gelassener Distanz.
Plötzlich kam Sano ein beängstigender Gedanke. Hätte Huygens angesichts der schrecklichen Wunden Jan Spaens nicht Erschrecken oder wenigstens Erstaunen zeigen müssen? Oder zumindest Respekt vor seinem toten Vorgesetzten? Oder hatte der Arzt gewusst, was ihn erwartete? Sano versuchte, diesen beängstigenden Gedanken zu verdrängen, während er beobachtete, wie Dr. Huygens das Kruzifix in Augenschein nahm, das der Tote um den Hals trug, und anschließend die Stichwunden untersuchte. Vielleicht war der holländische Arzt deshalb so distanziert, weil er schon viele Tote und übel zugerichtete Leichen gesehen hatte, sodass er an einen solchen Anblick gewöhnt war.
Schließlich schüttelte Dr. Huygens den Kopf. »Das ist nicht Mord«, sagte er und zeigte auf die dünne Kette, an der das Kreuz hing. »Körper ist in Wasser aufgedunsen. Dann …« Er machte eine pantomimische Vorführung eines Erstickungstodes; dann wies er auf die Stichwunden. »Ich glaube, auch das nicht Ursache für Tod.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Sano verwundert. »Allein diese Wunde hier …«, er wies auf die große, zerfleischte Stelle auf der linken Seite des Brustkorbes, »muss tödlich gewesen sein. Und man hat ihn schrecklich verprügelt. Seht Ihr die Platzwunden und
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