Die Spur des Verraeters
erkundigte er sich: »Was?«
»Geschichte«, antwortete Sano. »Und Kalligrafie, Mathematik, militärische Strategie, die chinesischen Klassiker und die Kampfkünste. Nach Ende meiner Studien habe ich diese Fächer unterrichtet.« Aber niemals die Naturwissenschaften. Sano schämte sich seiner Unwissenheit auf diesem Gebiet und spürte wieder Zorn auf jene Gesetze in sich aufsteigen, die seine Ausbildung beschränkt und eingeengt hatten.
»Ah.« Huygens nickte Sano erfreut zu. »Ihr Gelehrter. Lehrer.« Er legte eine Hand auf die Brust. »Genau wie ich.«
Sie lächelten einander an, und Sano gab dem plötzlichen Wunsch nach, Huygens von sich selbst zu erzählen. »Ich wäre den Rest meines Lebens Gelehrter und Lehrer geblieben«, sagte er, »musste meiner Familie gegenüber aber Pflichten erfüllen.« Dann erzählte er, wie sein Vater – stets darauf bedacht, das Ansehen der Familie zu mehren – ihm eine Stelle als Polizeioffizier beschafft hatte, die ihn schließlich bis in sein derzeitiges Amt als sôsakan-sama führte. »Habt Ihr auch Familie?«
Der Ausdruck der Fröhlichkeit schwand aus Huygens’ derbem Gesicht. »Frau und Sohn tot«, sagte er bedrückt. »Vater wollte, dass ich Gelehrter werde. In Niederlande, ich war Arzt. Ich dort studiert und gelehrt. Auch in Paris und Rom. Aber jetzt nicht mehr Professor.«
Huygens hielt inne, als müsste er über die Übersetzung eines schwierigen Sachverhalts nachdenken. Sano wartete, fasziniert von der Aussicht, weitere Einblicke in das Leben und die Seele eines Barbaren zu bekommen.
Dann zwang Huygens sich zu einem Lächeln und sagte: »Jetzt wir schauen uns Spaens Leiche an. Vielleicht wir finden etwas heraus. Gut, ja?« Er ging zum Untersuchungstisch zurück, nahm das Messer und winkte Sano. »Bringt Lampe mit!«
Enttäuscht zögerte Sano. Gern hätte er die Bekanntschaft mit Huygens weiter vertieft; nun aber stürmten sämtliche Ängste und Sorgen wieder auf ihn ein. Er war schon einmal bei einer Autopsie dabei gewesen. Aber es war ein gewaltiger Unterschied, ob diese Autopsie in der relativen Sicherheit der Leichenhalle im Gefängnis von Edo vorgenommen wurde – ein Ort, den selbst die abgebrühtesten Spitzel mieden –, oder ob man dabei war, wenn eine Leichenöffnung im Behandlungszimmer eines holländischen Arztes auf Deshima stattfand, wo Wachen in der Nähe lauerten, und nachdem man einen feierlichen Eid geschworen hatte, sich niemals mit Barbaren einzulassen oder sich mit fremdländischer Wissenschaft zu befassen. Es war riskant, ja verrückt. Doch Sano musste die Wahrheit über den Tod Jan Spaens erfahren, oder er würde den Mörder niemals fassen.
Er nahm eine Lampe, ging zu Dr. Huygens an den Untersuchungstisch und hielt das Licht über die Leiche.
Der Arzt schnitt winzige Hautstücke von den Rändern der Brustwunde und aus der Wunde selbst. Dann entfernte er mit Hilfe der Pinzette Klumpen geronnenen Blutes, Knochensplitter und eine Schnecke, die sich in der Wunde eingenistet hatte. Sanos Magen verkrampfte sich, als ihm fauliger Gestank in die Nase stieg. Um einem Anfall von Übelkeit vorzubeugen, konzentrierte er sich darauf, die dünne Kette zu entfernen, die um Spaens Hals lag; dann löste er das kleine Kreuz von der Kette. Das Kruzifix war ein wichtiger Hinweis, und Sano wollte nicht, dass es mitsamt Spaens Leichnam vergraben wurde.
»Wonach sucht Ihr?«, fragte er Huygens, unterdrückte ein Würgen und hoffte, dass diese grässliche Untersuchung bald vorbei sein möge.
Huygens sagte irgendein Wort, das Sano nicht verstand. Immer tiefer drang er mit der Pinzette in die Wunde ein, drehte das Instrument, zerrte, stocherte. Eine übel riechende Flüssigkeit rann aus der Wunde. Sano wurde plötzlich dermaßen übel, dass er drauf und dran war, die Flucht zu ergreifen. In der Stille hörte er, wie die Brandungswogen an die Ufer Deshimas schlugen, und er vernahm Stimmen auf der Straße. Inständig hoffte er, dass keiner der Wachsoldaten erschien. Plötzlich traf die Pinzette mit einem leisen Klicken auf irgendetwas Hartes.
»Ah!«, rief Dr. Huygens.
Vergeblich versuchte er, mit der Pinzette einen Gegenstand aus der Wunde zu ziehen. Schließlich legte er das Instrument zur Seite, holte eine kleine Säge und durchtrennte eine blutige Rippe. Sano schloss die Augen, als das scheußliche, mahlende Geräusch erklang. Als er wieder hinschaute, sah er, wie Dr. Huygens die Finger in den Brustkorb des Toten schob.
» Aaah !« Triumphierend zog der
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