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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Hautrisse?«
    »Nein. Nein …« Dr. Huygens wedelte mit der Hand, suchte nach den richtigen Worten und murmelte schließlich etwas auf Holländisch, offensichtlich verärgert wegen seines beschränkten japanischen Wortschatzes. »Auch Schläge nicht schlimm genug, um Todesursache zu sein. Und noch etwas …« Huygens hob ein imaginäres Messer und tat so, als würde er damit nach Sano stechen, dessen rechte Hand instinktiv zum Schwertgriff zuckte, während er den linken Arm schützend vor das Gesicht riss.
    »Seht Ihr? Ihr Euch schützen, Ihr kämpfen«, sagte Huygens. »Aber Spaen …«
    Der Arzt zeigte auf die Arme und Hände des Toten, und Sano verstand: Hätte Jan Spaen sich gegen einen Angreifer gewehrt, der ihn mit einem Messer attackierte, hätte er an Händen und Armen Wunden davongetragen; das aber war nicht der Fall. »Und er war starker Mann«, sagte Huygens. »Guter Kämpfer. Kein leichtes Opfer für Überfall oder Mord. Er hat Wunden abbekommen, als schon tot war.«
    »Na, großartig«, sagte Sano und stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn er in diesem seltsamen Fall einer Sache sicher gewesen war, dann der Todesursache Spaens. Nun aber hatte Dr. Huygens bewiesen, dass Sano sich im Irrtum befand. »Es könnte doch sein«, dachte Sano laut nach, »dass Direktor Spaen im Schlaf ermordet wurde. Aber in seinem Zimmer gab es keine Blutspuren. Vielleicht wurde er ertränkt. Aber welchen Grund könnte der Mörder gehabt haben, die Leiche anschließend zu verstümmeln? Warum hat er es nicht wie einen Unfall aussehen lassen? Und wieso hat der Mörder seinem Opfer das Kruzifix um den Hals gehängt?«
    Dr. Huygens beugte sich über die Leiche, betastete mit den Fingern das zerfetzte Fleisch der schlimmsten Wunde – die auf der Brust –, und betrachtete sie über die Ränder seiner Brillengläser hinweg. Dann öffnete er einen Schrank, wobei er auf Holländisch vor sich hin murmelte.
    Sano lief es eiskalt über den Rücken, als er sah, was der Schrank enthielt: Beile, Sägen, Hämmer, Zangen, Klammern, Sonden, Pinzetten und Messer verschiedenster Form und Größe. Die Instrumente eines Schiffsarztes.
    Dr. Huygens wählte ein Messer und eine Pinzette aus und legte beides auf den Untersuchungstisch. Dann öffnete er die Fensterläden. Offensichtlich hatte er die Absicht, eine Obduktion vorzunehmen.
    »Nein!« Sano eilte zu Huygens und schlug die Fensterläden zu.
    »Doch!«, protestierte der Holländer. »Brauchen Licht! Brauchen Luft!«
    »Wir müssen aufpassen, dass keiner uns sieht. In unserem Land ist eine Leichenöffnung ein Verbrechen.« Als Sano den verständnislosen Ausdruck auf Huygens’ Gesicht sah, wünschte er sich sehnlichst einen Dolmetscher. Aber er durfte nicht riskieren, dass Iishino oder sonst jemand Zeuge der Obduktion wurde und an höherer Stelle berichtete, dass er, Sano, sich an der Ausübung verbotener fremdländischer Wissenschaft beteiligt hatte – ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe stand. Sano formulierte seinen Einwand anders. »In Japan ist es falsch, einen toten Körper zu zerschneiden. Wer das tut, wird bestraft.«
    Begreifen spiegelte sich auf Huygens’ Gesicht. »Nicht falsch in Holland. Wir schauen in Körper hinein und lernen, wie er funktioniert. Wir lernen, Kranke heilen. In Holland alle zuschauen, wenn ich Körper zerschneide. Keine Strafe.« Er bedachte Sano mit einem fragenden Blick. »Warum hier Strafe?«
    Mit den schlichtesten Worten, die er fand, erklärte Sano dem Arzt, dass die Regierung das Vordringen ausländischen Wissens und Glaubens so sehr fürchtete, dass sie barbarische Praktiken sogar dann untersagte, wenn sie für die Menschen von Nutzen waren. »Ich halte diese Gesetze für falsch«, endete Sano. »Wir dürfen nicht aus Angst die Augen vor der Wahrheit verschließen oder versuchen, uns vom Rest der Welt zu isolieren. Es gibt sehr vieles, das ich sehen und lernen möchte. Aber ich darf es nicht.«
    Huygens nickte und lächelte. Sano erkannte, dass der Arzt die Bedeutung seiner Worte begriffen und Verständnis für seine Bitte hatte. Sano fühlte sich diesem Barbaren näher als vielen Landsleuten, die die einschränkenden Gesetze des bakufu stillschweigend hinnahmen. Er verspürte ein Gefühl wachsender Entfremdung, das ihn ängstigte. Denn wenn er sich innerlich von seinem Herrn, dem Shogun, und dessen Regime entfernte – konnte die Saat des Verrats bei ihm dann nicht auf fruchtbaren Boden fallen?
    »Ihr studiert?«, fragte Huygens. Als Sano nickte,

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