Die Spur des Verraeters
an.
»Seid still!«, brüllte Sano.
Seine Blicke trafen sich mit denen des Barbaren. Er sah die gutmütige Belustigung in Dr. Huygens’ Augen – und ein bisschen Stolz auf sein wissenschaftliches Zaubergerät –, aber keine Spur von Spott oder Überheblichkeit. Der immer noch kichernde, prustende dicke Barbar bot ein dermaßen komisches Bild, dass Sano zuerst lächeln und dann ebenfalls lachen musste. Auch Huygens lachte nun wieder los, und die gemeinsame Heiterkeit war wie ein unsichtbares Band zwischen den beiden Männern. Sano mochte diesen holländischen Arzt auf Anhieb und bedauerte von ganzem Herzen, dass Huygens ein Mordverdächtiger war, den er vor Gericht bringen musste, falls sich belastende Beweise fanden.
Kommandant Ohira runzelte die Stirn; Dolmetscher Iishino schüttelte missbilligend den Kopf. Sanos Lachen verebbte, und er seufzte reumütig. »Ehrenwerter Doktor«, sagte er dann, »ich habe schlechte Neuigkeiten. Und ich muss Euch ein paar Fragen stellen.«
Bei dem Gespräch stellte sich heraus, dass Huygens seit zwölf Jahren der Ostindischen Kompanie angehörte und Jan Spaen seither als Schiffsarzt auf dessen Fahrten begleitet hatte. Den Abend, als Spaen verschwunden war, hatte Dr. Huygens in seinem Arbeitszimmer verbracht und die Nacht dann fest durchgeschlafen. Überdies ergab sich kein Motiv für einen Mord an Direktor Spaen, und Sano durchsuchte Huygens’ Unterkunft, ohne irgendetwas Verdächtiges zu finden – genau so, wie er es sich insgeheim erhofft hatte, auch wenn es für ihn selbst bedeutete, dass er eine weitere Gelegenheit vertan hatte, den eigenen Kopf zu retten.
Als Sano den Barbaren nun betrachtete, der sanftmütig an seinem Schreibpult saß, kam ihm plötzlich eine Idee. Huygens war ein Freund von Dr. Ito; schon deshalb neigte Sano dazu, dem Holländer zu vertrauen. Außerdem glaubte er fest an Huygens’ Unschuld. Er brauchte die Hilfe dieses Mannes.
Was Sano nun vorhatte, war gefährlich, ungesetzlich – und verräterisch. Doch er wollte, er musste die Wahrheit über den Mord an Jan Spaen erfahren. Er wollte den persönlichen und beruflichen Triumph erleben, den Mörder Spaens seiner gerechten Strafe zuzuführen. Wenn er, Sano, diesen Fall nicht löste, würde er die Gunst des Shogun verlieren und die Gefahr eines Krieges heraufbeschwören. Und noch etwas kam hinzu: Sano wollte Huygens besser kennen lernen – und damit die Welt der fremdländischen Wissenschaften, was ihm nach japanischem Gesetz verboten war, ein Gesetz, das Sano verabscheute.
»Ich möchte gern für einen Augenblick mit Dr. Huygens alleine sein«, sagte er zu Kommandant Ohira und Dolmetscher Iishino.
Ohira runzelte die Stirn. »Aber das ist streng verboten! Das kann ich Euch unmöglich erlauben.«
»Weil es gefährlich ist, mit einem Barbaren alleine zu sein«, fügte Iishino hinzu, »sehr gefährlich. Und die Leute könnten auf den Gedanken kommen, Ihr wolltet Euch mit einem Ausländer gegen die Regierung verschwören! Außerdem – wie wollt Ihr Euch mit ihm unterhalten?«
Der Arzt ließ den Blick neugierig von Sano zu Iishino schweifen und wartete auf die Übersetzung.
»Ich übernehme die volle Verantwortung für mein Tun«, sagte Sano. »Geht jetzt. Ich treffe Euch am Tor, wenn ich hier fertig bin.«
Vom Balkon aus beobachtete Sano, wie Ohira, Iishino und die zwei Wachsoldaten die Treppe vor dem Haus bis zur Straße hinunterstiegen und davonschlenderten. Dann – von der Ahnung erfüllt, sich immer weiter in Gefahr zu begeben – kehrte Sano in Dr. Huygens’ Arbeitszimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. Durch das Fenster schaute er auf den Hof des Hauses, auf dem zwei weitere Wachen patrouillierten. Doch sie waren außer Hörweite. Sano wandte sich Huygens zu. Er zog den Brief Dr. Itos unter seiner Schärpe hervor und reichte ihn dem Holländer, der verdutzt dreinschaute. Dann rückte er seine Brille zurecht und las schweigend. Schließlich nickte er und lächelte.
»Ito Genboku«, sagte er und wies zuerst auf den Brief, dann auf Sano. »Ito Genboku!«
Huygens hatte immerhin begriffen, dass Dr. Ito ein gemeinsamer Freund von ihnen war – aber wie sollte Sano nun weiter verfahren? »Ihr müsst mir helfen, den Leichnam von Direktor Spaen zu untersuchen. Um festzustellen, ob der Mörder irgendwelche Spuren hinterlassen hat«, sagte Sano und untermalte seine Worte mit Gesten, in der schwachen Hoffnung, Huygens auf diese Weise sein Anliegen vermitteln zu können.
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