Die Spur des Verraeters
bezahlen wird, um seine Kostbarkeit zurückzubekommen?, fragte sich Pfingstrose. Mit Sicherheit genug, dass sie sich ihre Freiheit aus der Gefangenschaft des Vergnügungsviertels erkaufen konnte!
Rasch stellte Pfingstrose die Schachtel in ihr Versteck zurück. Sie nahm die Münzen an sich, die sie dort ebenfalls verborgen hatte, schob das Brett wieder an die alte Stelle und verließ die Latrine. Das Glück blieb Pfingstrose treu: Niemand bemerkte sie, als sie zur Hintertür hinaus und auf die Straße eilte. Sie ließ den Blick über die Menschenmenge im Vergnügungsviertel schweifen und sehnte sich nach der – wenn auch begrenzten – Unabhängigkeit, die sie einst genossen hatte.
Im Alter von vierzehn Jahren hatte Pfingstrose als Hausmädchen in der Villa eines reichen Mannes gearbeitet. Vom Morgengrauen bis spät in den Abend hatte sie geputzt, genäht, geflickt, gewaschen. Aus Furcht vor dem Zorn ihres Arbeitgebers hatte sie ihr Verlangen unterdrückt, irgendetwas zu stehlen – bis zu jenem Tag, an dem die älteste Tochter ihres Herrn geheiratet hatte. An diesem Tag hatte Pfingstrose ein Paar juwelenbesetzte Haarnadeln gestohlen, Geschenke an die Braut. Hätte Pfingstrose ihre Beute sofort versteckt, wäre sie ihrem traurigen Schicksal vielleicht entronnen. Doch Pfingstroses Eitelkeit hatte ihren Niedergang herbeigeführt. Sie steckte sich gerade eine der kostbaren Nadeln ins Haar, als ihre Herrin ins Zimmer kam, Pfingstrose erblickte und rief: »Eine Diebin! Eine Diebin!«
Kurz darauf erschienen der doshin und seine Helfer und brachten Pfingstrose ins Gefängnis. Bei der Gerichtsverhandlung sagten die Polizisten aus, sie hätten in Pfingstroses Zimmer weiteres Diebesgut gefunden. Händler, Ladenbesitzer und andere Einwohner der Stadt erschienen vor Gericht und erzählten von weiteren Diebstählen in ihren Geschäften oder Wohnungen, die Pfingstrose im Auftrag ihres einstigen Herrn des Öfteren besucht hatte. Und ihr Herr, ein mächtiger Mann, hatte beträchtlichen Einfluss im bakufu .
»Du, Pfingstrose«, verkündete der Magistrat schließlich das Urteil, »wirst als Kurtisane im Vergnügungsviertel von Nagasaki arbeiten, bis du deine Verbrechen bereut, die Schulden bei deinen Opfern beglichen und die Kosten für das Essen und die Unterkunft bezahlt hast, die im Vergnügungsviertel für die Dauer deiner Strafzeit entstehen.«
Bei ihrem Aussehen konnte Pfingstrose nie und nimmer genug Geld verdienen, um dies alles bezahlen zu können. Sie wünschte sich, der Magistrat hätte sie zum Tode verurteilt. Tag für Tag schuftete sie wie eine Sklavin im Goldenen Halbmond. Nacht für Nacht verbrachte sie in ausländischen Handelsstationen und leistete den einzigen Männern Liebesdienste, die sie sexuell begehrten: chinesische, arabische und koreanische Matrosen und Kaufleute. Wenngleich diese Männer viel Geld bezahlten, reichte es nicht einmal, um die Wucherpreise für das Essen und die Unterkunft in Minamis Bordell zu begleichen. Nur der Reiz fortdauernder Diebstähle machten Pfingstrose das Leben erträglich, doch nicht selten ertappte Minami sie dabei – wie heute mit dem Fächer –, was dazu führte, dass Pfingstroses Strafe immer wieder verlängert wurde. Der schlimmste Tag aber kam, als Minami ihr befahl, den holländischen Barbaren auf Deshima Liebesdienste zu leisten, deren Schiff kurz zuvor in Nagasaki eingelaufen war.
Als sie über die Brücke nach Deshima ging, hatte Pfingstrose versucht, sich ins Meer zu stürzen, um der Schande zu entgehen, mit einem Barbaren schlafen zu müssen. Doch die zwei Wachsoldaten, die bei ihr waren, vereitelten ihren Selbstmordversuch. Sie führten Pfingstrose zu einem Haus, in dem Jan Spaen, der holländische Direktor der Faktorei auf Deshima bereits auf sie wartete. Pfingstrose schluchzte und versuchte sich loszureißen, doch die Wachsoldaten stießen sie grob in das Zimmer des Barbaren und schlossen die Tür ab.
Der Barbar erhob sich aus einem Stuhl, worauf Pfingstrose entsetzt bis an die Wand zurückwich. Die seltsamen blauen Augen, das helle Haar und der riesenhafte Wuchs des Barbaren jagten ihr Furcht ein, und der Geruch, den er verströmte, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Hilflos wartete sie, dass der Riese sie mit brutaler Gewalt nahm, so wie es die anderen Ausländer nach ihren langen und frauenlosen Seereisen getan hatten. Gleich würde er gierig mit seinen großen rauen Händen nach ihr greifen, würde sie wollüstig mit seinen kräftigen Zähnen beißen und
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