Die Spur des Verraeters
ihren Schatz gestohlen hatte, die kleine Truhe. Dann fügte sie hinzu: »Sag dem Mann, Pfingstrose hat den Gegenstand, den er verloren hat. Für zehntausend koban gibt sie ihm das Stück zurück.« Mit dieser Summe konnte Pfingstrose ihre Schulden begleichen und ihre Zukunft sichern. »Sag ihm, er soll heute Abend auf mein Zimmer kommen. Zur Stunde des Ebers. Allein. Mit dem Geld.«
Dann erklärte Pfingstrose dem Boten, was geschehen würde, sollte der Mann ihren Wünschen nicht nachkommen, und bezahlte den jungen Burschen reichlich, der sofort davoneilte, um ihr Ultimatum zu überbringen. Pfingstrose lächelte. Sie war sicher, dass der Mann ihre Forderungen erfüllte. Und selbst wenn er sich weigerte: Sie, Pfingstrose, konnte diesen Kampf nicht verlieren. Weigerte der Mann sich zu zahlen, würde sie ihren Schatz an den sôsakan verkaufen und auf diese Weise die Freiheit gewinnen – und obendrein die Gewissheit, nicht mehr befürchten zu müssen, als Mörderin ihres Geliebten verurteilt zu werden.
»Pfingstrose!«
Minamis Stimme riss sie in die Gegenwart zurück. »Ins Haus mit dir! Wird’s bald!« Zornig krallte Minami die Hand in Pfingstroses Haar und zerrte daran. »An die Arbeit!«
Pfingstroses Geheimnis wärmte ihr das Herz. Sie verbarg ein Lächeln und murmelte: »Ja, Herr.«
Denn noch war Minami ihr Herr und Gebieter. Aber nicht mehr lange.
11.
B
ei seinen Nachforschungen in der Umgebung von Nagasaki entdeckte Sano den Händler Urabe in der chinesischen Niederlassung. Das abgeriegelte chinesische Viertel befand sich unweit des Hafens und wurde von hohen Holzpalisaden, einem Wassergraben und Fischerhütten umschlossen. Ein nicht abreißender Strom japanischer Kaufleute, Gepäckträger und Beamter – sogar ein paar Frauen in männlicher Begleitung – zog durch das Tor, nachdem sie von Wachposten durchsucht und ihre Namen in ein Wachbuch eingetragen worden waren. Außerdem wurde vermerkt, wann sie die chinesische Niederlassung betraten oder verließen.
Der Nachmittag ging in den Abend über, als Sano sein Pferd am Geländer des Wassergrabens festband und sich der Menschenmenge anschloss, die ins Chinesenviertel strömte. Das Sonnenlicht war kupferfarben, das Meer tiefblau, und am verblassenden Himmel trieben weiße Wolken mit purpurnen Rändern.
»Nennt Euren Namen und den Grund Eures Besuchs«, befahl ein Wachsoldat, als Sano das Tor erreichte.
Sano tat wie geheißen. Ihm fiel auf, wie oberflächlich der Posten ihn durchsuchte und seinen Namen dann ins Besucherbuch eintrug, ohne Fragen zu stellen oder sich Papiere vorlegen zu lassen. Die Chinesen waren den gleichen Einschränkungen unterworfen wie alle anderen Ausländer in Japan: ein Leben in einem abgesperrten Wohngebiet, Mengenbeschränkungen beim Handel und eingeschränkter Kontakt mit den Einwohnern der Stadt. Doch auf Grund des jahrhundertelangen engen Verhältnisses zwischen Chinesen und Japanern wurden die Vorschriften nicht so streng gehandhabt wie bei den Europäern, und es gab bestimmte Vergünstigungen.
Als Sano die Ansiedlung betrat, gelangte er zuerst auf einen belebten Marktplatz, wo chinesische Händler ihre mit Laternen geschmückten Verkaufsstände aufgestellt hatten und Porzellan und Rohseide, Zucker und Terpentin, Kampfer und Myrrhe, Teakholz aus Kambodscha, Ginsengwurzeln aus Korea, Bücher, Heilmittel und andere exotische Waren anboten. Die Händler in ihren Baumwollhosen, den Umhängen mit hohem Kragen und den Schuhen aus Stoff eilten geschäftig umher; wild gestikulierend, dass ihre Zöpfe flogen, feilschten sie mit ihren japanischen Kunden; war man sich einig geworden, huschten die Finger der Chinesen über die Rechenbretter. Jeder japanische Ein- und Verkäufer wurde von Schreibern, Dolmetschern und Lastenträgern begleitet; Letztere sorgten für den Transport der Waren, die verkauft oder angekauft wurden. Steuerbeamte der japanischen Regierung überprüften die Hauptbücher der Chinesen und versahen sie mit einem Siegel, wenn das Ergebnis zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen war. Der schnelle Singsang der chinesischen Sprache bewirkte, dass auf dem Markt eine ständige Atmosphäre der Eile und Unrast zu herrschen schien. Jedenfalls konnten die Chinesen sich größerer Freiheiten und Handelsprivilegien erfreuen als etwa die Holländer – statt nur ein Schiff, wie bei den Barbaren aus Europa, durften Jahr für Jahr siebzig chinesische Schiffe den Hafen von Nagasaki anlaufen. Und weil zwischen China und Japan seit langer
Weitere Kostenlose Bücher