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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Zeit Frieden herrschte, waren die Sicherheitsvorschriften nicht so streng; die chinesischen Händler und Seeleute durften auf ihren Schiffen Waffen tragen und sogar ihre Unterkünfte verlassen, um in einem eigenen Tempel ihre Gottesdienste zu feiern.
    Sano hob den Blick und betrachtete die rot angestrichene Pagode dieses Tempels, die sich an einem Hügelhang in der Ferne erhob. Er musste an Hiratas Geschichte über die geheimnisvollen Lichter und den rätselhaften Abt denken, der angeblich einen Groll auf die Holländer hegte. Irgendwann musste Sano diesen Mann aufsuchen und ihn vernehmen; denn als Abt hatte er sehr viel Bewegungsfreiheit und Zugang zu den Waffen auf den chinesischen Schiffen, was auch ihn zu einem Tatverdächtigen machte.
    Doch mit den größeren Bewegungs- und Handelsfreiheiten der Chinesen erschöpften sich auch schon ihre Privilegien. Ihre kasernenartigen Unterkünfte waren schäbig und überbelegt. Auf den Balkonen flatterte Wäsche im Wind, und der Gestank der Abwässer vermischte sich mit Kochdünsten. Andererseits blieb kein Chinese lange Zeit in Nagasaki, und die Gewinne aus ihren Geschäften machten die Unannehmlichkeiten der Unterbringung mehr als wett.
    Plötzlich brach an der Reihe der Verkaufsstände, an denen Sano auf der Suche nach Urabe entlangschlenderte, Unruhe aus. Zwei chinesische Händler gingen schreiend und schimpfend aufeinander los. Fäuste flogen, Füße traten zu. Rasch hatte sich ein Kreis chinesischer Zuschauer um die Streithähne gebildet. Die Gaffer feuerten die Gegner lautstark an. Münzen wechselten die Besitzer. Statt die Kämpfenden zu trennen, wetteten die Chinesen auf den Sieger!
    »Hört auf!« Japanische Wachen eilten herbei und schlugen mit Bambusstöcken auf die Hintern der Gaffer ein. »Der Spaß ist zu Ende! Geht wieder an die Arbeit!«
    Während die beiden Unruhestifter von den Wachsoldaten davongezerrt wurden, zerstreuten sich die chinesischen Zuschauer, wobei sie unverständliche, klagende Schreie und lautes Gejammer ausstießen. »Mein Hintern brennt wie Feuer«, hörte Sano, als ein japanischer Dolmetscher einem Freund übersetzte, was einer der Chinesen von sich gab.
    Verwundert beobachtete Sano das Geschehen. Als Geschichtsgelehrter hatte er das mächtige, uralte Reich der Mitte stets als einen Hort des Wissens und der Zivilisation betrachtet. Viele Stützen des japanischen Geisteslebens, der Kultur und der Wissenschaften waren aus China gekommen: der Buddhismus, die konfuzianischen Systeme des Erziehungswesens und der Regierungsarbeit, die Kräutermedizin, sogar die Schrift. Die japanische Architektur, Musik, Malerei und Literatur waren stark von der chinesischen beeinflusst. Chinesische Wissenschaftler hatten den Kompass, den Handdruck, den Stahl, das Papier, das Porzellan, das Pulver und die Streichhölzer erfunden …
    Sano machte sich von diesen Gedanken frei und ging zu einer der Wachen.
    »Wo finde ich den Kaufmann Urabe?«, fragte er.
    Der Wachsoldat streckte die Hand aus. »Da vorn ist er, an dem Stand mit dem Bauholz – der Mann im grünen Kimono. Seine Geschäfte laufen in letzter Zeit nicht so gut.«
    Sano wühlte sich zu dem Verkaufsstand mit dem Bauholz durch. Urabe war gerade damit beschäftigt, sich durch ein Vergrößerungsglas grob zugeschnittene, nach Baumharz duftende Bretter anzuschauen. Sano wurde auf unangenehme Weise an Dr. Huygens und ihre verbotene Zusammenarbeit erinnert.
    »In dem Holz sind Wurmlöcher«, erklärte Urabe. Seine Stimme war so kratzig wie eine Schiebetür in einem verzogenen Rahmen. Er war Mitte vierzig. Sein Hals war so kurz, dass der Kopf unmittelbar auf den Schultern zu sitzen schien, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck ständiger Verärgerung. Die niedrige Stirn über den schmalen Augen war von tiefen Furchen durchzogen, der Mund verkniffen, das spitze Kinn angriffslustig vorgereckt. Urabe ging von Brett zu Brett und betrachtete jedes durch sein Glas. »Für die gesamte Lieferung kann ich höchstens fünfzig momme zahlen.«
    Ein Dolmetscher übersetzte Urabes Angebot dem chinesischen Verkäufer, der daraufhin zornig losschimpfte. Als er wutschnaubend verstummte, übersetzte der Dolmetscher: »Er sagt, dass es ganz normale Poren im Holz sind, keine Wurmlöcher, und dass er mit dem Preis auf keinen Fall heruntergeht.«
    »Nun, dann wird nichts aus dem Geschäft. Gehen wir.«
    Urabe schlenderte an Sano vorüber, seine Begleiter – Schreiber, Lastenträger und den Dolmetscher – im Schlepptau. Jetzt,

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