Die Spur des Verraeters
Spaen und die holländische Ostindische Kompanie waren lediglich Werkzeuge, die den Tod meines Bruders herbeigeführt haben.«
Weitere Raketen stiegen zischend zum Himmel auf und explodierten. Der beißende Geruch von Schießpulver breitete sich aus, und Rauch verschleierte den Himmel.
»Wo habt Ihr Direktor Spaen kennen gelernt?«, fragte Sano.
»Bevor ich nach Japan kam, war ich Abt eines Tempels in der holländischen Handelsstation auf Batavia, Indonesien, in der es viele chinesische Seeleute, Händler und Arbeiter gab«, antwortete Liu Yun. »Zu der Zeit war auch Jan Spaen dort. Wir haben uns zwei, drei Mal getroffen. Aber ich kannte ihn kaum. Die holländische Sprache beherrsche ich nur sehr unvollkommen.«
In Anbetracht der Tatsache, dass der Abt fließend Japanisch sprach, hatte Sano den Verdacht, dass Liu Yun nicht die Wahrheit sagte; vermutlich sprach er fließend Holländisch, wenn er Abt eines Tempels in einer niederländischen Handelsstation gewesen war. »Wann habt Ihr erfahren, welche Rolle Jan Spaen bei der Eroberung Taiwans gespielt hat?«
»Ein Jahr darauf. Ein Handelsschiff brachte die Nachricht nach Batavia.«
»Habt Ihr Eure Bekanntschaft mit Jan Spaen aufgefrischt, nachdem er zum Leiter der holländischen Faktorei auf Deshima wurde?«
Der Abt schaute zu der Insel hinüber. Lampen brannten an den Türen der Wachhäuser. Sano konnte nicht sagen, ob Liu Yun die Insel überhaupt wahrnahm oder irgendeine Szene aus der Vergangenheit vor dem geistigen Auge sah; der Blick des alten Mannes war vollkommen nach innen gewandt. Seine heitere Gelassenheit jedoch blieb bestehen. »Ich habe Jan Spaen nicht mehr gesehen, seit er Batavia verlassen hat«, sagte Liu Yun schließlich. »Der Zufall hat uns beide nach Japan geführt. Aber es gab keinen bestimmten Grund, dass wir uns wieder getroffen haben.«
Sano wusste, dass er im Besucherbuch zurückblättern und die Wachmannschaft auf Deshima befragen musste, ob diese Aussage der Wahrheit entsprach. Aber waren die Aufzeichnungen verlässlich? Konnte er den Beamten in Nagasaki trauen? War es wirklich Zufall, dass es Jan Spaen und Liu Yun nach Japan verschlagen hatte? Oder war der Abt gezielt der Spur jenes Mannes gefolgt, der seinen Bruder getötet hatte?
»Wie kam es, dass Ihr Abt des hiesigen Tempels geworden seid?«, fragte Sano.
»Als mein Vorgänger starb«, antwortete Liu Yun, »wählten meine Oberen mich zum Nachfolger, weil ich über geringe holländische Sprachkenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit Ausländern verfüge.«
Also spricht er doch ein wenig Holländisch, ging es Sano durch den Kopf. »Ich verstehe. Besitzt Ihr eine Pistole, ehrwürdiger Abt?«
Wieder kicherte Liu Yun. »Natürlich nicht. Mein buddhistischer Glaube untersagt die Anwendung von Gewalt und das Töten. Ich brauche keine Waffe.«
Was aber nichts daran änderte, dass Abt Liu Yun Kontakte mit seinen Landsleuten gehabt hatte, die Waffen besaßen . Und Sano hatte erlebt, wie lasch die Sicherheitsvorkehrungen von den Japanern gehandhabt wurden, wenn es um die Chinesen ging. Für einen Händler oder Seemann war es kein großes Problem, Waffen in die chinesische Ansiedlung zu schmuggeln und sie unbemerkt dem Abt zuzustecken – bei einer Feierlichkeit wie dieser, zum Beispiel. Wenn die Taucher vor den Küsten Deshimas keine Waffen entdeckten, und falls sich kein Beweismaterial gegen einen der anderen Verdächtigen fand – oder wenn Sano Zeugen auftrieb, die ihm ein feindseliges Verhältnis zwischen Abt Liu Yun und Jan Spaen bestätigen konnten –, musste möglicherweise der chinesische Tempel durchsucht werden. Vorerst aber lenkte Sano das Gespräch auf jenes Thema, das ihn überhaupt erst auf Liu Yun aufmerksam gemacht hatte.
»Man hat Euren Namen auch im Zusammenhang mit seltsamen Lichterscheinungen genannt, die vor der Insel Deshima gesehen wurden«, sagte er.
Der Abt nickte bedächtig. »Ich habe selbstverständlich davon gehört. Die Seeleute erzählen, was in der Stadt und in der Gegend vor sich geht. Aber ich habe die Lichter nie mit eigenen Augen gesehen. Jeden Tag ziehe ich mich in meine Mönchszelle zurück, sobald die abendlichen Riten vollzogen sind, und ich verlasse die Zelle niemals vor dem Morgengrauen. Nur an feierlichen Tagen wie heute mache ich eine Ausnahme. Meine Diener können es Euch bestätigen.«
»Also könnt auch Ihr mir nicht sagen, was die Ursache für diese rätselhaften Lichterscheinungen ist«, murmelte Sano enttäuscht. Falls die
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