Die Staatskanzlei - Kriminalroman
waren wie Steine, unergründlich und abweisend, ihre Stimme klang verächtlich.
„Hast du deinen Vater oft besucht?“
Karla schüttelte den Kopf. „Ich mochte seine Neue nicht. Ein affektiertes Weibsbild! War immer um ihn herum. Ein Wachhund ist nichts dagegen. Der letzte Besuch liegt mehr als zwei Monate zurück.“
Sie legte das Schulheft beiseite, stützte ihren Kopf auf ihre Arme und starrte nachdenklich an die Wand. Verena musste an ihren eigenen Vater denken. Für ihn war sie immer die wichtigste Person gewesen, zumindest hatte er ihr das Gefühl gegeben. Sie verspürte Mitleid mit dem jungen Mädchen.
„Du hast dir doch bestimmt Gedanken gemacht wegen des Mordes. Hast du irgendeine Idee?“, setzte sie nach.
Statt einer Antwort gab es nur ein stummes Kopfschütteln. Jetzt sah Verena es: In Karlas Augen glitzerten Tränen. Also war da doch mehr gewesen. Gerne hätte sie etwas Tröstliches gesagt, etwas in der Art wie „Du hast ja noch deine Mutter“. Sie scheute davor zurück. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter schien ein Minenfeld zu sein.
Sie fingerte in ihrer Handtasche nach dem silbernen Etui, eines von vielen Geschenken, mit denen Franz sie beglückt hatte. Damals hatte sie seine Großzügigkeit geschätzt, jetzt gab sie immer wieder Anlass für schmerzhafte Erinnerungen. Das teure Stück wegzuwerfen, ließ ihr Hang zur Sparsamkeit nicht zu. Mit den Worten „Wenn du mit jemandem sprechen willst, egal über was, ruf mich an“ reichte sie dem Mädchen ihre Visitenkarte. „Wenn du mich nicht erreichst, hinterlass eine Nachricht, ich ruf dann zurück“, versprach sie. Karla machte nicht den Eindruck, als ob sie das Angebot annehmen oder auch nur darüber nachdenken würde. Sie machte sich wieder über ihre Schulaufgaben her.
Bevor Verena ins Wohnzimmer zurückging, suchte sie das Badezimmer auf. Sie hätte Irene Heise auch offiziell um eine DNA-Probe bitten können, aber so war es ihr lieber. Die Haarbürste enthielt mehr Haare als nötig. Gut, dass die Natur Mutter und Tochter mit unterschiedlichen Haarfarben ausgestattet hatte.
Im Wohnzimmer stand Irene Heise am Fenster und kehrte ihr den Rücken zu. Als sie sich zu Verena umdrehte, wirkte sie merkwürdig abwesend. „Und was hat Karla gesagt?“, wollte sie wissen.
„Dass sie bei ihrer Freundin war und erst gegen zweiundzwanzig Uhr zurückgekommen ist. Sie ist dann gleich in ihr Zimmer gegangen. Sie kann nicht bestätigen, dass Sie zu Hause waren.“
Ein Achselzucken war die Folge. Die Frau war abwesend, vermutlich hatte sie ihre Tabletten genommen und nahm ihr Umfeld nun durch eine rosarote Brille wahr. Verena versuchte erst gar nicht, das Gespräch fortzusetzen, und verabschiedete sich. Sie war gespannt, was der ungepflegte Nachbar zu sagen hatte. Der hatte ein grantiges Gesicht aufgesetzt. Seine blutunterlaufenen Augen deuteten auf Alkoholgenuss hin. Die Ausdünstungen seines Körpers waren noch schlimmer als beim letzten Mal, obwohl Verena eine Steigerung nicht für möglich gehalten hätte.
„Ob meine Nachbarin vor drei Tagen abends zu Hause war? Nee, war sie nicht. Sie ist weggegangen, so gegen neunzehn Uhr muss das gewesen sein. Sie ist oft abends weggegangen, weiß der Kuckuck wohin. Auf Walze ja wohl nicht, dazu ist sie zu alt. Obwohl, bei manchen Frauen gilt, ‚je oller, desto doller‘. Können den Hals nicht voll kriegen, stellen uns Männern nach.“
Dir bestimmt nicht, dachte Verena und versuchte die Bilder, die sich ihr aufdrängten, zu unterdrücken. Allein die Vorstellung, von diesem schmierigen Kerl umarmt zu werden oder gar … Einfach ekelhaft.
Wann die Alte von nebenan zurückgekommen sei? Das könne er nicht sagen. Er habe sich um halb zehn schlafen gelegt. „Und wenn ich schlafe, schlafe ich. Dann kann eine Bombe einschlagen, ich würde nichts mitbekommen.“ Verena reichte ihm ihre Karte und bat ihn, im Präsidium vorbeizukommen. Seine Aussage sollte protokolliert werden. Er sagte ohne zu zögern zu. Vermutlich war es das erste Mal seit Jahren, dass jemand etwas von ihm wollte. Sein erwartungsvoller Gesichtsausdruck sprach Bände. Verena fand das noch deprimierender als den düstergrauen Winterhimmel, der sie draußen empfing.
26
Zurück in ihrem Büro weihte sie Stollmann in die Gerüchte über Heises Verbindungen zu Baumgart ein. Ihr Kollege war sofort Feuer und Flamme.
„Das ist mehr als ein Gerücht. Genauso arbeitet der Oberbanause. Was sind schon ein paar Tausender Bestechungsgeld, wenn
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