Die Staatskanzlei - Kriminalroman
Depressive in Deutschland um. Depressive Mörder hingegen waren eine Ausnahme. Und doch gab es sie. Die Exfrau und die Ministerialrätin waren für sie nach wie vor die Hauptverdächtigen.
Als Verena den Namen Baumgart ins Spiel brachte, reagierte der Anwalt abweisend. Sein Freund habe ihm gegenüber den Unternehmer niemals erwähnt. Von Kontakten wisse er nichts. Dann hatte er es auf einmal eilig und verwies auf einen wichtigen Termin. Zurück blieb eine frustrierte Kriminalbeamtin, die sich über die Maileingänge der letzten Stunden hermachte. Um kurz nach acht erlöste ihre Freundin Dagmar sie von der Schreibtischarbeit. Sie hatte ein neues Glühweinrezept ausprobiert. Verena sollte als Versuchskaninchen herhalten.
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Mitten in der Nacht wachte sie auf. Ihr Herz schlug schnell und unregelmäßig. Sie spürte, dass sie nicht allein war. Auch wenn sie sie nicht sehen konnte, sie waren da
.
In Gedanken ging sie den Plan durch. Dass Heise der Erste sein würde, hatte von Anfang an festgestanden. Der Mann war ein Sadist, sie hatte ihn gehasst. Niemann war das Gegenteil, er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber er war ein Feigling, hatte sich Heises Willen gebeugt, obwohl es in seiner Hand gelegen hatte, anders zu entscheiden. Und Wagner? Ihr wollte nichts einfallen, was gegen ihn sprach. Außer vielleicht, dass er weggesehen hatte. Sterben musste er trotzdem. Sie wollten es so
.
Sie hatte damit gerechnet, dass sie ihr sagen würden, wer der Nächste sein sollte. Bislang hatten sie dazu geschwiegen. Letztlich war es auch egal. Was machten einige Tage mehr oder weniger in einem ganzen Leben schon aus?
Sie stand auf und ging zum Fenster, zog die Gardinen auf. Das grelle Licht der Straßenlaterne ließ die Straße vor ihr weiß aussehen. Dann erkannte sie, dass es nicht nur das Licht war. Es hatte geschneit. Kein Schneeregen wie in den Tagen zuvor, sondern richtiger Schnee, der liegen blieb
.
Der Schnee löste Erinnerungen an ihre Kindheit aus. Vor ihren Augen erschien das Bild ihres Vaters. Er zog sie mit dem Schlitten durch eine hügelige weiße Winterlandschaft. Später hatten sie zusammen im Vorgarten einen Schneemann mit Augen aus Kartoffeln und einer Mohrrübennase gebaut. Sie hatte ihren Vater mehr geliebt als ihre Mutter. Eigentlich hatte sie ihre Mutter überhaupt nicht geliebt. Sie war keine gute Mutter und eine lausige Ehefrau. Kein Wunder, dass ihr Vater abgehauen war. Wenn er sie damals nicht verlassen hätte, vielleicht wäre alles anders gekommen und sie nicht krank geworden. Aber sicher wusste man das nicht. Die Krankheit war erblich, ihre Großmutter hatte sie auch gehabt
.
Weshalb sie den Schnee gerade heute geschickt hatten, war ihr ein Rätsel. Sie taten häufig Dinge, die sie nicht verstand. Die Ungewissheit empfand sie als Bedrohung. Dabei gab es auch ohne die Stimmen genug Bedrohliches in ihrem Leben. Ihr Vorgesetzter und die Kollegen zum Beispiel und die Nachbarn. Ihre Mutter, die sie mit Anrufen tyrannisierte. Erst gestern Abend wieder. Weshalb begriff sie nicht, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte?
Sie ging zurück zu ihrem Bett, knipste die Nachttischlampe an und holte die schmale Kassette unter ihrem Bett hervor. Sanft fuhr sie mit den Fingern über den Schaft der Sauer Backup. Jetzt spürte sie es ganz deutlich. Sie beobachteten sie. Die großen schwarzen Augen, die sie fixierten, der Atem in ihrem Nacken. Es waren mehrere, einer redete, die Stimme wurde lauter und fordernder. Sie hielt sich die Ohren zu, die Stimme verschwand nicht. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Ein Name fiel – die Botschaft, auf die sie so lange gewartet hatte
.
30
Nach einer wenig ergiebigen Sitzung der Soko am Vormittag fuhr Verena erneut in die Staatskanzlei. Staatssekretär Haders wirkte gestresst. Der bei ihrem ersten Besuch leere Schreibtisch war heute mit Umlaufmappen und Akten voll bepackt und in seinem Vorzimmer klingelte unaufhörlich das Telefon.
Entsprechend knapp, fast unfreundlich fiel seine Begrüßung aus. „Es passt ganz schlecht“, sagte er. „Anfang nächster Woche ist Landtagsplenum. Die Opposition spielt verrückt und hat Unmengen von Entschließungen und mündlichen Anfragen eingebracht. Jede für sich überflüssig, in der Gesamtheit eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand. Und wir von der Regierung dürfen den Unfug ausbaden. Demokratie ist manchmal sehr anstrengend. Ich hoffe, es geht schnell bei Ihnen, Frau Hauser.“
Er bot ihr keinen
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