Die Stadt am Ende der Zeit
ist nur ein Spiel«, erklärte Tiadba. »Du kannst doch lesen, oder?«
»Ich kann alle Rätsel der Buchstabenkäfer entschlüsseln, wenn sie nicht zu verzwickt sind«, sagte Mash. »Und ich kann alles lesen, was ein Lehrer mir vor die Nase hält. Ich bin zwar groß und schwer, aber blöde bin ich nicht.«
Der fünfzigste Stock roch so desolat und muffig, dass Jebrassy bis zu den Fingerspitzen erschauerte. Wenige Stockwerke unterhalb des Dachs hatte das Treppenhaus sich fast auf das Dreifache seines Durchmessers im Erdgeschoss ausgeweitet. Die Stufen wurden von da an breiter und der Abstand zwischen ihnen geringer, so dass sie verrückterweise noch mehr Stufen als erwartet erklimmen mussten, um nach oben zu gelangen. Mehrmals geriet Jebrassy ins Stolpern. Kein anderes Treppenhaus war wie dieses, was das seltsame Gefühl beim Aufstieg noch verstärkte. Kein guter Aufenthaltsort für uns, dachte Jebrassy.
Doch den drei Jugendlichen schien das gar nicht aufzufallen. Sie waren bereits in verschiedene Richtungen ausgeströmt und hatten vor jedem Gang, den sie inspizierten, ein Zeichen im Schutt hinterlassen. Insgesamt gab es hier mehr als zwölf Gänge, die vom Zentrum des Stockwerks wegführten, und Hunderte von Nischen, die alle leer standen. Nicht einmal der Flügelschlag vereinzelter Buchstabenkäfer durchbrach die Stille, die sich vor so langer Zeit über die Räume gesenkt hatte.
Offenbar mied jedes lebende Geschöpf diesen Ort.
Doch es dauerte nicht lange, bis die Rufe der drei Grünschnäbel durch die Stille drangen. Sie zählten laut auf, an wie
vielen Buchrücken sie vergeblich gezerrt hatten. Je weiter sie sich entfernten, desto schwächer wurden ihre widerhallenden Stimmen, bis man sie kaum noch hören konnte.
»Ich lass euch beide jetzt allein und schließe mich ihnen an«, kündigte Khren an. »Drei ist eine blöde Zahl, meint ihr nicht auch?«
Jebrassy wollte schon Einwände erheben, doch Tiadba kam ihm zuvor und bedankte sich bei Khren, der sich recht hastig aus dem Staub machte. Offenbar fühlte er sich in Tiadbas Gegenwart nicht wohl, was Jebrassy nicht wunderte – sie hatte sich ja auch nicht gerade um ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm bemüht.
Tiadba nutzte die Gelegenheit, um ihm über die Schulter zu streichen. »Hast du’s gesehen?«
»Was gesehen?«
»Ich hab’s gesehen, kurz bevor Khren sich verabschiedete. Ob’s denen überhaupt auffällt?«
»Was denn?«
Tiadba schob ihn voran. Den Gang, der vor ihnen lag, hatte noch niemand durchsucht, denn hier fehlte jede Markierung im Schutt. Auf beiden Seiten war er von sechs Regalen gesäumt, die jeweils zehn Armlängen maßen und den Abstand zwischen den Nischeneingängen ausfüllten. Sie erstreckten sich bis zum Ende des Ganges, das im Halbdunkel lag. So weit der Blick reichte, Reihen über Reihen von einzementierten Buchrücken, als marschierten sie in feierlicher Prozession. »Warte. Schau mal. «
Jebrassy, der nicht aufgepasst hatte, beugte sich schuldbewusst vor und zwang sich zur Konzentration auf die Titel. Stirnrunzelnd ging er an den Regalen entlang und nahm dabei
die Mittelreihe in Augenschein. »Wonach soll ich suchen?« Bewusst bemühte er sich um einen gleichmütigen (und leicht unterwürfigen) Ton.
Und dann sah er es: Die Titel veränderten sich. Die eigentümlichen Buchstaben schienen zu wabern, sich neu zu ordnen und danach zu erstarren, bis sie wieder genauso unschuldig und beständig aussahen, wie er sie in Erinnerung hatte. Der Anblick war für ihn mehr als bestürzend – so schockierend, dass ihm das Blut in die Ohren schoss, er nach hinten taumelte und gegen das gegenüberliegende Regal prallte. Er sah zu Tiadba hinüber. Eine solche Unbeständigkeit bei diesen Regalen mit den erstarrten Büchern, die an keine Zeit gebunden schienen, kam ihm fast so beängstigend vor wie ein Überfall.
Wenigstens lachte Tiadba ihn nicht aus. »Hat Grayne das hier gemeint?«, fragte sie voller Ehrfurcht. »Ich meine, verändert sich hier alles, weil niemand zuschaut?«
»Wir schauen doch zu. Warum verändern sie sich vor unseren Augen?«
»Ich … weiß … es … nicht.« Tiadba streckte die Hand aus und zerrte an einem einzementierten Buch. Selbstverständlich gab es nicht nach. »Grayne hat uns nur die halbe Wahrheit verraten. Das hier ist ein Rätsel, und wir müssen es lösen, um uns der Bücher würdig zu erweisen.«
»Ich verstehe zwar überhaupt nichts mehr, aber das lag von jeher auf der Hand«, erwiderte
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