Die Stadt am Ende der Zeit
Experte.
Gemeinsam hatten sie allen Mut zusammengenommen und das Haus verlassen, in dem Whitlow, gefangen in krampfartiger Starre, immer noch auf seinem Stuhl hockte. Jetzt zeichnete sich draußen so etwas wie ein Sonnenaufgang ab: Ein bleiernes Licht legte sich über die Straßen. Die Wohngegend im Norden ähnelte einer zusammengeklebten Collage. Über den dunklen, abweisenden Häusern lagen Streifen von Licht und Schatten. Die Menschen, die auf den Straßen zurückgeblieben waren, sahen so aus, als wollten sie irgendwohin, doch dazu blieb ihnen nur eine sehr kurze Zeitspanne. Noch schlimmer war, dass sie ständig ZURÜCK AUF LOS landeten. Offenbar war nur wenigen ihre missliche Lage bewusst. Sie ähnelten Insekten,
die in erstarrendem Harz festsaßen. Nur Daniel und der stämmige Grobian besaßen noch ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit, doch wie lange würde diese Freiheit andauern?
»Ein Schicksalswandler, der nicht träumt«, sinnierte der Grobian zwischen heiseren Flüchen. Er bemühte sich, mit Daniel Schritt zu halten, als sie auf dem Weg zur Schnellstraße nach Osten abbogen, wo sich früher die Fünfundvierzigste Straße befunden hatte. Die Luft war hier voller Sand. »Ich hätte dich niemals gefunden, aber Mr. Whitlow hatte da so eine Ahnung. Du hattest zwar keine Träume, doch er konnte deinen Stein spüren. Das war seine spezielle Gabe. Ist schon eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet er keinen Unterschlupf finden konnte, als sie uns im Stich ließ.« Der Grobian wirkte recht selbstgefällig. »Nur ich bin entkommen«, schnaufte er. »Hab die letzten Weltlinien genutzt. Hab sie heruntergerissen und bin daran entlanggesaust. – Na ja, und du natürlich. «
»Terminus«, warf Daniel ein.
Der Grobian nickte, denn er verstand das Wort nur zu gut. »Mr. Whitlow hat es so genannt. Früher wusste ich aber nie, was er damit meinte. Einen Endhaltepunkt der Eisenbahn? Das Ende der Linie? Doch was es auch sein mag, mir gefällt das nicht. Es ist unnachgiebig und verleibt sich alles ein.«
Daniel schlang die Finger um die beiden Kästchen in seiner Hosentasche und segnete die Steine dafür, dass sie ihm – ihnen beiden – ein bisschen Freiheit gaben. Auch der Grobian steuerte irgendetwas dazu bei, obwohl Daniel nicht sagen konnte, was es war. Offenbar war ihnen beiden bewusst, dass sie ohne die Gegenwart des anderen genauso frustriert und zum Untergang verurteilt gewesen wären wie die im Sumpf steckenden,
irre blickenden Gestalten, die sie auf den Gehwegen und Straßen überholten.
»Wer ist diese Kalkfürstin?«
»Die Höchste in der Hierarchie, so weit es mein Arbeitsgebiet betrifft. Doch ehrlich gesagt weiß ich es selbst nicht. Bin ihr nie begegnet. Sie ist gefährlich, musst du wissen.«
»Und der Nachtfalter?«
»Ah, der Nachtfalter. Also ist er tatsächlich hier gewesen. Jeder Diener der Königin hat seinen eigenen winzigen Thron. Nunc dimittis, kann ich da nur sagen. Ich bezweifle, dass er ein solches Kuriosum wie dich getötet hätte. Wahrscheinlich wollte er dich nur der Königin zuführen, so wie ein Viehtreiber.«
Daniel knurrte irgendetwas und wandte den Kopf nach vorn. Er blickte nicht gern zurück, denn die Straße in ihrem Rücken sah völlig anders aus als die, die sie gerade entlanggegangen waren. Mittlerweile quetschte die Zeit sich offenbar so zusammen wie ein gegen die Wand geschmettertes Akkordeon.
Sie gelangten zu einer Anhöhe, die Aussicht auf die Stelle bot, an der sich früher die Schnellstraße befunden hatte. Jetzt war hier nur noch ein langer Graben voller Schlamm zu sehen, den auf beiden Seiten leere Häuser säumten. In diesem Teil des Viertels hatte das zusammengequetschte Akkordeon lauter materielle Dinge nach oben befördert: Häuser und seltsame alte Automobile. Aber nichts Lebendiges.
»Es sind keine Menschen mehr da«, bemerkte der Grobian.
»Und was bedeutet das?«
»Sag du’s mir, junger Herr.«
Die erhöhte Schnellstraße stand ihnen offensichtlich nicht mehr zur Verfügung, also würden sie auf Gedeih und Verderb
die kleineren Straßen auf Bodenniveau nehmen müssen. Es würde ein langer, schwieriger Spaziergang werden. Sie blickten in einen Wagen, doch dessen Betriebssystem war hoffnungslos zerstört. Da drinnen war offenbar alles zu Schlacke zusammengeschmolzen.
»Was bist du eigentlich? Mein Kumpel ?«, rief Daniel über die Schulter. Hinter der bemüht lockeren Art verbarg sich echte Furcht. »Oder mein Butler?«
»Dein Führer , junger
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