Die Stadt am Ende der Zeit
Gesicht oder an deren melodische, sanft drängende Stimme erinnern konnte. Jebrassy dagegen war ihr deutlich im Gedächtnis geblieben.
Auch die anderen kamen herüber: Denbord, Nico und Shewel, die ihre Schlafmatten mitbrachten. Mittlerweile nächtigten sie lieber draußen, unter den dunklen Bogengewölben, als in den hauchdünnen Zelten, die beim leichtesten Windstoß flatterten und ihnen im Zwielicht Angst machten.
Tiadba setzte sich auf den Boden und schlug eines der Bücher auf. Am liebsten hörten ihre Gefährten Abschnitte, in denen es um Sangmer, den Pilger, ging und um Ishanaxade, die Tochter des Bibliothekars, obwohl die Geschichten nur selten übereinstimmten. Doch diese Merkwürdigkeit machte Tiadbas Zuhörern nicht viel aus.
Notgedrungen ließ sie Teile, mit denen sie Probleme hatte, entweder ganz aus oder erzählte sie mit eigenen Worten. Immer noch war ihr der Sinn mancher Wörter nicht klar, doch beim wiederholten Lesen wuchs ihre Erfahrung, so dass sie deren Bedeutung von Mal zu Mal besser erraten konnte.
Andere Passagen, überall im Text verteilt wie Hanfsamen in einem Kuchen, versetzten sie nach wie vor in Erstaunen. Manche bestanden aus einer Liste von Anweisungen: Gehe hierhin, tue dies und das. Tiadba nannte sie »Wörterkarten«. Manchmal las sie diese Listen unmittelbar vor dem Einschlafen vor, kurz bevor die Hochgewachsenen die Lampen löschten, weil sie so beruhigend wirkten.
Diesmal wählte sie einen Text aus, mit dem sie recht gut vertraut war. Ihre Gefährten rollten sich zu ihren Füßen zusammen und starrten in die Dunkelheit. »›Ich erzähle hier eine ganz einfache Geschichte‹«, begann Tiadba. Dabei fiel ihr die Zeit mit Jebrassy ein, die noch gar nicht lange zurücklag, und ihr schossen Tränen in die Augen.
Früher einmal, vor einer halben Ewigkeit, war die wunderbare junge Sonne – so nannte man sie, obwohl sie schon seit zehn Billionen Jahren schien – vom Chaos des Typhon nahezu umzingelt. Nur fünf Welten waren übrig geblieben und auf der Erde zwölf Städte. Während des langwierigen,
unglückseligen Zerfalls des Kosmos boten diese Städte Flüchtlingen aus allen Raumregionen eine neue Heimat.
Die größte und älteste dieser Städte war die Kalpa. Und auch die klügste, denn diese Stadt traf unentwegt Vorsorge für die Zeit, wenn das Chaos auch noch die junge Sonne verschluckt haben würde.
Viele Menschen rechneten mit ihrer baldigen Vernichtung.
Der größte Mensch dieser Epoche war ein Deva namens Polybiblios. Er war bis zum letzten Winkel des alternden Kosmos gereist, um bei den Shen zu leben, im Glanz ihrer sechzig Sonnen, und ihre großartige Kultur zu erforschen, denn das Chaos drohte auch diese Zivilisation in nächster Zeit zu schlucken.
Die Stadtfürsten der Erde setzten eine hohe Belohnung für denjenigen aus, der bereit war, zu diesen letzten, fernen Überlebensinseln im Kosmos zu reisen, um Polybiblios zur Rückkehr zu bewegen. Denn Polybiblios war so in seine Studien vertieft, dass er gar nicht mitbekommen hatte, was ringsum geschehen war. Mittlerweile war er von Regionen voller Tücken und Fallen umgeben, so dass er dort wie eingemauert festsaß. Niemals würde ihm die Rückkehr zur Erde allein gelingen.
Der Erste, der sich als Freiwilliger für diese Expedition anbot, war ein junger Instandsetzer namens Sangmer. Wegen zahlreicher Heldentaten und seines außerordentlichen Muts war er damals schon bekannt und beliebt.
Sangmer stellte eine Mannschaft zusammen und erweckte das letzte große Raumschiff der Erde zu neuem Leben. Mit seiner Besatzung – er hatte sie nach den Gesichtspunkten
von Stärke, Mut und Klugheit ausgewählt – flog er auf der einzigen noch offenen Route zu dieser fernen Raumregion.
Nur zehn Besatzungsmitglieder, darunter Sangmer, überlebten die seltsamen und gefährlichen Abenteuer dieser Expedition – und deren gab es viele –, so dass sie mit Polybiblios die Heimreise antreten konnten.
Das Chaos wütete, verzehrte alles in seinem Weg und verwandelte es in tödliche, blendende Helle. Mehrmals hätte es fast auch das Raumschiff getroffen, denn nichts ist so hartnäckig und widernatürlich wie der Typhon, wie manche behaupten. Andere sagen, nichts sei so unberechenbar wie der Typhon, deshalb gäbe es keine schwierigere Aufgabe, als planmäßig gegen ihn vorzugehen.
Sangmer brachte auch die geheimnisvolle Adoptivtochter des Polybiblios mit zur Erde. Die meisten Menschen sind sich darin einig, dass sie noch weniger
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