Die Stadt am Ende der Zeit
menschlich als die Shen wirkte, obwohl sie eine reizende Gestalt hatte.
Sie hatte den Namen Ishanaxade angenommen, was so viel bedeutet wie ›aus allen Geschichten geboren‹, und fühlte sich dem Geschlecht Deva verbunden, dem ihr Adoptivvater angehörte.
Auf der Erde wurden die Heimkehrer von den Stadtfürsten empfangen und laut bejubelt, doch viele Familien trauerten zur selben Zeit um ihre verlorenen Kinder und waren mit Bestattungszeremonien beschäftigt.
Polybiblios nahm seine Arbeit in dem hohen Turm über dem ersten Bion der Kalpa auf. Das Wissen, das er bei den Shen erworben hatte, nutzte er dazu, die Sperre zu entwerfen und zu schmieden, die tatsächlich eine Zeit lang ausreichte,
um die junge Sonne zu schützen und das Chaos fernzuhalten.
Auch Sangmer saß nicht müßig herum, sondern war so ruhelos wie eh und je. Er unternahm weitere Expeditionen, um das Chaos zu erforschen, genauer einzuschätzen und ihm Widerstand zu bieten. All das brachte ihm noch mehr Ruhm ein, auch wenn diese Reisen etlichen vornehmen Familien weitere Söhne und Töchter raubten.
Unterwegs kamen so viele junge Menschen ums Leben, dass Sangmer der Pilger sich den Beinamen Traumtöter zuzog – eine Bezeichnung, auf die er keineswegs stolz war. Deshalb gelobte er, sich ins tiefe Exil zurückzuziehen, ins Reich der in der Stille verankerten Sessile, und erst zurückzukehren, wenn er sich in jahrelangem Schweigen geübt hatte.
Auch Ishanaxade war unter den Neugierigen, die die mit Bändern geschmückte Straße säumten, um Sangmer beim Antritt der Büßerreise zuzuschauen. Ishanaxade baute sich vor ihm auf, während er schwer an der Last der Erinnerungsscheiben trug, auf denen das Leben seiner tausend toten Gefährten aufgezeichnet war. Diese Bürde erdrückte ihn fast.
Keine war so wundervoll gekleidet wie Ishanaxade, aber daran liegt es nicht, dass Abbildungen von ihr bis heute verboten sind oder gelöscht werden. Es war auch keine Frau so schön wie sie, und das nicht nur in den Augen ihres Vaters, sondern auch in denen der Neugierigen, die zuschauten, wie sie Sangmer einen Teil seiner Last abnahm. Sie half ihm, die Scheiben bis zum Eingang der Sessile zu tragen, in deren Reich die Stille Frieden bedeutet.
Manche behaupten, es sei dort gewesen, wo sich ihre Lebenslinien miteinander verbanden und zusammenwuchsen. Andere meinen, ihre Liebe habe schon auf der Rückreise vom Reich der Shen begonnen. Niemand nahm Anstoß daran, dass ein Instandsetzer sich mit Ishanaxade vermählte. Es gab auch nur wenige, die es gewagt hätten, Polybiblios, der dieser Verbindung seinen Segen erteilt hatte, zu verärgern. Schließlich hatte er den letzten Rest der Menschheit vor dem Schlimmsten bewahrt.
Als Ishanaxade und Sangmer aus dem Reich der Stille zurückkehrten, wies Polybiblios ihnen viele wichtige Aufgaben zu, die sie gemeinsam, aber auch getrennt voneinander erledigen sollten.
So war es, und so wird es geschehen.
Als Tiadba das Buch zuklappte, kuschelten sich ihre Gefährten noch enger aneinander. Irgendwie hatte sich die Geschichte seit dem letzten Vorlesen gewandelt. Manche Einzelheiten waren anders als früher. Es mochte aber auch sein, dass ihre Ohren inzwischen einfach mehr aufnahmen.
»Es ist keine Geschichte mit glücklichem Ausgang, nicht wahr?«, fragte Khren.
»Wir alle werden da draußen sterben«, sagte Nico niedergeschlagen. »Ich verstehe es zwar selbst nicht, aber ich will trotzdem mit, verdammt.«
Plötzlich hätte Tiadba trotz ihrer Erschöpfung gern von Jebrassy erzählt und ihren Gefährten zugerufen: Er ist nicht tot und wird es schon irgendwie schaffen, zu uns zu stoßen; und wenn er dabei ist, wird dieser Marsch anders sein als alle früheren … Doch stattdessen wandte sie den Blick ab und lehnte
sich leicht zurück, denn sie bezweifelte, dass die Gefährten ihr glauben und ihre Worte sie trösten würden.
»Lasst uns schlafen«, schlug sie vor.
Die Jugendlichen bliesen zwar die Backen auf, verfrachteten ihre Schlafmatten jedoch widerspruchslos unter die hohen dunklen Bogengewölbe.
DRITTER TEIL
TERMINUS UND TYPHON
ZEHN NULLEN
60
Wallingford
Anfangs wollte der gedrungene, stämmige Alte im Tweedanzug Daniel seinen Namen nicht verraten. Erst verhielt er sich reserviert, dann plötzlich barsch und bestimmend, so als hätte er stets allein gelebt, sei aber dennoch gewohnt, das Sagen zu haben. Sein Akzent war schwer einzuordnen: Das Englisch klang nach Cockney, aber Daniel war in diesen Dingen kein
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