Die Stadt der gefallenen Engel
Der eigene Herzschlag dröhnte in ihren Ohren und sie hatte das Gefühl, unter Wasser zu sein. Keine Luft mehr zu bekommen.
Das konnte nicht sein.
Das durfte nicht sein.
Sie hatte doch nur ihre Mutter und ihre Großeltern. Es gab keine sonstigen Verwandten. Auch wenn sie in den letzten Jahren nur wenig Kontakt zu ihrer Oma gehabt hatte, so war sie doch da gewesen. Man konnte sie anrufen, ihr schreiben oder, so wie jetzt, sie besuchen.
Der Duft von frisch gebackenem Mohnkuchen stieg ihr in die Nase, aber es war nur eine Illusion ihres Geistes, der ihr den künftigen Verlust klarmachen wollte.
Nein, schrie es in ihr, aber sie fragte ruhig: »Gibt es Aussicht auf Heilung?«
Ihr Großvater schüttelte traurig den Kopf. »Für eine Operation ist es zu spät und eine Chemotherapie verspricht keine Aussicht auf Besserung.«
Lara legte sich eine Hand auf die Brust. Das Gefühl, ersticken zu müssen, wurde immer stärker. »Wie lange noch?«
»Das weiß niemand.«
Sie musste es wissen. »Wie lange noch?«
Nun sah sie seine Augen und trotz der Dunkelheit konnte sie den Schmerz erkennen, der darin lag. »Drei Monate, vielleicht ein halbes Jahr.«
Sein Schmerz mochte still und leise sein, ihrer war ohrenbetäubend. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte.
Ihr Großvater rückte näher. Dann umfasste sein Arm ihre Schulter.
»Wir müssen stark sein. Für sie. Martha kämpft so tapfer.«
»Hat sie starke Schmerzen?«, schluchzte Lara.
»Ja, aber sie sagt nichts. Spricht nicht darüber. Nicht einmal mit mir.«
»Medikamente?«
»Jede Menge Tabletten, aber ich weiß nicht, wann und wie viel sie davon nimmt.«
»Es muss sehr schwer für sie sein.«
»Ja, denn sie ist eine stolze Frau, aber ich denke, manchmal ist es auch für sie zu viel. So wie vorhin. Dann …«
Er musste nicht weiterreden, Lara verstand ihn auch so. Ihre Großmutter war stets eine beherrschte Persönlichkeit gewesen. Ein Mensch, der sein Leben selbst gestaltete und vor keiner Schwierigkeit zurückwich, aber nun fiel es ihr schwer, sich zu beherrschen, denn dieses Mal gab es keinen Kampf. Sie konnte nur ertragen, was ihr auferlegt worden war, und wusste nicht einmal, wie lange sie es ertragen konnte.
»Wenn die Schmerzen zu schlimm werden …«
»Ich habe vorgesorgt. Wenn es zu Ende geht, wird deine Großmutter nicht leiden müssen.«
Und was ist dann mit dir?, fragte sich Lara stumm. Wirst du ohne sie weiterleben können?
Sie kannte die Antwort.
Und nun verstand sie auch, warum ihre Mutter ihr erlaubt hatte, die Ferien hier zu verbringen.
Sie sollte Abschied nehmen.
Der Wind flüsterte durch die Nacht, während Lara neben ihrem Großvater auf der Treppe saß. In Gedanken versunken, schwiegen beide, bis Lara sagte: »Es tut mir leid, wie ich Oma vorhin behandelt habe.«
»Das war schon in Ordnung. Du hattest recht. Ich habe dir das alles erzählt, damit du deine Großmutter besser verstehst. Sie ist gerade nicht sie selbst und reagiert manchmal über.«
»Es war … es war nur …«, versuchte Lara zu erklären.
»Lass es gut sein. Ich verstehe dich.« Der Professor strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann legte er den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel auf. »Eine schöne Nacht.«
Lara tat es ihm gleich. »Es sieht nach Regen aus.«
»Nein. Ich denke nicht, dass es regnen wird. Der Wind kommt von Osten und treibt die Wolken zurück.«
»Opa?«
»Ja?«
»Warum hat meine Mutter angerufen?«
»Sie macht sich Sorgen um dich, wie es alle guten Mütter tun.«
»Es war wegen Damian, stimmt’s?«
»Ja, sie wollte mehr über ihn wissen.«
Das ist nicht richtig, dachte Lara. Ihre Mutter hatte konkrete Fragen gestellt und sie war misstrauisch gewesen, so viel hatte sie dem belauschten Telefonat entnehmen können. Sie hatte gefragt, ob Damian ihr durch ihren Großvater vorgestellt worden war. Aber so war es nicht gewesen, denn sie hatte Damian im Park kennengelernt, wenn man dabei überhaupt von Kennenlernen sprechen konnte.
»Das alles hat mit meinem Vater zu tun.«
Der Kopf des Professors ruckte herum. Trotz der Dunkelheit spürte Lara, dass er sie anstarrte. Wahrscheinlich fragte er sich, wie viel sie über ihren Vater wusste.
»Ich denke schon«, meinte er schließlich. »Die Situation war ähnlich, beide studieren oder studierten an derselben Universität und der Zufall will es, dass auch ich an dieser Universität war. Da deine Mutter mit Michael kein Glück hatte, befürchtet sie wahrscheinlich, dass es
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