Die Stadt der gefallenen Engel
dir ähnlich ergehen könnte. Was natürlich Quatsch ist. Seit damals sind achtzehn Jahre vergangen. Damian und Michael sind ebenso zwei verschiedene Menschen wie du und deine Mutter.«
»Ich habe heute mit ihr telefoniert.«
»Ja, das hat sie gesagt.«
»Sie hat mir endlich erzählt, was damals geschehen ist.«
Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Irgendwann musstest du die Wahrheit erfahren. Ich denke, du bist alt genug, um damit umzugehen.« Er zögerte. »Kannst du damit umgehen?«
Lara wandte ihm den Kopf zu. »Vielleicht eines Tages. Ich hoffe es. Wer hört schon gern, dass der eigene Vater einen verlassen hat, weil er enttäuscht darüber war, keinen Sohn bekommen zu haben?«
»So war es nicht.«
»Wie war es dann?« Lara spürte, wie erneut heißer Zorn in ihr aufstieg, aber sie zügelte sich. Niemand erzählte ihr die ganze Wahrheit über das, was damals geschehen war. Es war wie ein Puzzle und sie brauchte mehr Teile, um das Bild zusammenzusetzen. Wut würde ihr in diesem Fall nicht weiterhelfen.
»Dein Vater hat sich einen Sohn gewünscht. Viele Väter tun das und sie müssen sich erst auf die neue Situation einstellen, damit klarkommen, dass es nicht so gekommen ist, wie sie es sich erhofft haben.«
»Und dann ist er gegangen?«
»Nein … das heißt, nicht direkt. Es gab einen Streit zwischen deinen Eltern. Deine Mutter war nach der Geburt verständlicherweise sehr aufgewühlt, als dein Vater dich nicht sofort auf den Arm nahm, weil er selbst in Aufruhr war. Rachel hat ihm schwere Vorwürfe gemacht.«
»Was für Vorwürfe?«
Er kratzte sich an der Stirn. Lara spürte, dass ihr Großvater die nächsten Worte abwog.
»Vielleicht sollten wir darüber nicht sprechen«, meinte er schließlich. »Es wurden Dinge im Zorn gesagt, die niemand wirklich so meinte, aber die Worte waren ausgesprochen und konnten nicht mehr zurückgenommen werden. Martha und ich haben versucht, deine Mutter zu beruhigen, aber sie war außer sich und verlangte, dass Michael sofort das Haus verließ. In dem Zustand, in dem sie sich befand, hielten wir es für das Beste, ihrem Wunsch nachzugeben. Ein Fehler – wie sich später herausstellte.«
»Und dann?«
»Rachel schloss sich mit dir in ihrem Zimmer ein. All unsere Bitten, die Tür zu öffnen, wurden ignoriert. Wir haben uns große Sorgen um euch gemacht, aber deine Mutter schwieg eisern, sprach nicht mehr mit uns. Die ganze Nacht haben wir vor der Tür gesessen und gewartet.«
Wieder schwieg er, so als wäre er durch die Zeit gereist und erlebe jetzt alles noch einmal.
»Am nächsten Morgen kam dein Vater zurück. Er hatte einen großen Strauß Blumen für deine Mutter gekauft. Sie ließ ihn ins Zimmer. Was da gesprochen wurde, weiß ich bis heute nicht, denn Rachel hat es uns nie erzählt. Schließlich öffnete sich die Tür und Michael ging, ohne ein Wort zu sagen, an uns vorbei. Wir haben ihn nie wiedergesehen, nie wieder von ihm gehört.«
Lara dachte darüber nach. Im Großen und Ganzen stimmte die Geschichte ihres Großvaters mit der Erzählung ihrer Mutter überein, aber sie sah auch die Unterschiede.
Laut ihrer Mutter war ihr Vater noch am Abend der Geburt gegangen, gleich nachdem er erfahren hatte, dass sein Kind nicht ein Junge, sondern ein Mädchen war. In der Version ihres Großvaters hingegen hatte Rachel ihren Ehemann nach einem hitzigen Streit aufgefordert zu gehen. Ein großer Unterschied. Ihre Mutter hatte auch nicht den Streit erwähnt, den sie scheinbar mit Michael gehabt hatte. Ihrer Erzählung nach war die ganze Sache fast wortlos abgelaufen.
Wie war es wirklich gewesen?
Welche Version war die richtige? Oder stimmten beide und die seitdem vergangene Zeit hatte dazu beigetragen, dass Details vergessen wurden oder sich änderten?
Aber Lara wollte noch etwas anderes wissen.
»Wie war das für euch?«, fragte sie ihren Großvater. »Wie habt ihr euch bei alldem verhalten?«
Er seufzte. »Deine Mutter war die nächsten Tage kaum ansprechbar. Sobald wir das Zimmer betraten und nach ihr oder dir sehen wollten, schickte sie uns wieder hinaus. Ich habe versucht, in Ruhe mit ihr darüber zu sprechen, aber ich glaube, das alles war zu viel für sie. Sie hat mir Vorwürfe gemacht, ich sei an allem schuld, ich hätte Michael ins Haus geholt.« Ein weiterer Seufzer. »Ja, sie warf mir sogar vor, ich hätte diese Beziehung geplant und sie ganz bewusst manipuliert.« Seine Stimme hob sich im Zorn. »Schließlich platzte mir irgendwann der Kragen und
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