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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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fest. Marikas Körper war perfekt. Vollkommen. Die Sünde selbst. So mochte Eva ausgesehen haben, als sie Adam den Apfel reichte. Adam hatte keine Chance gehabt, denn wer konnte solchen Augen, solchen Lippen widerstehen?
    »Das ist sie«, sagte Damian leise neben ihr. »Ist sie nicht unglaublich?«
    Aber Lara beachtete ihn nicht. Sie hatte nur noch Augen für dieses Wesen aus Sinnlichkeit und Lust.
    Marika ließ nun ihre Hüften kreisen. Ihre Arme streckten sich fordernd nach einem unsichtbaren Liebhaber aus, der sie zu umarmen, zu liebkosen schien, denn ihr Körper wölbte sich ihm wollüstig entgegen. Marikas Lippen öffneten sich und ihre Zunge glitt suchend hervor, bis sie sich im Spiel mit einem nicht sichtbaren Gegenpart zum Tanz vereinte.
    Plötzlich stöhnte Marika auf. Sie warf den Kopf in den Nacken.
    Die Musik wurde lauter. Eindringlicher. Der Rhythmus schneller. Marika schrie auf. Die Musik erstarb.
    Im Publikum herrschte atemlose Stille. Alle waren fasziniert von dem Schauspiel auf der Bühne. Marika hielt sie fest in ihrem Bann. Sie wandte ihnen das Gesicht zu und lachte. Ihr rechter Arm hob sich, der ausgestreckte Zeigefinger deutete zur Hallendecke und alle Blicke folgten ihm.
    Ein neuerlicher Trommelschlag rollte durch den Raum.
    Und dann ergoss sich aus unzähligen Eimern, die verborgen an der Decke hingen, Farbe über Marika. Rot, Grün, Schwarz, Blau, Gelb und alle denkbaren Zwischentöne überschütteten den nackten Leib, der sich genussvoll in diesem Bad aus Licht und Farbe wand.
    Von Marika war schließlich nichts mehr zu erkennen. Sie war zu einem fließenden Farbspiel geworden, das sich bei jeder Bewegung des Körpers veränderte. Die Farben versiegten. Die Künstlerin stand dem Publikum zugewandt. Die Füße eng beieinanderstehend, die Arme seitlich ausgestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt, schien sie zu warten.
    Dann ließ sich Marika nach hinten fallen, ohne ihre Haltung zu verändern und ohne zu versuchen, den Fall zu dämpfen. Für einen Moment war kaum noch etwas von ihr zu erkennen, dann bewegte sich plötzlich die ganze Bühne, hydraulische Pumpen hoben mit lautem Ächzen den hinteren Teil der Bühne an. Mit ihm wurde die Frau wieder sichtbar. Lara erkannte, dass die Bühne in Wahrheit eine gigantische Leinwand war.
    Kurz darauf stand diese Leinwand senkrecht. Makelloses Weiß, dass nur in der Mitte durch Marikas farbigen Körper unterbrochen wurde.
    Lara verstand nicht, warum die Leinwand nicht durch die herabfließende Farbe verschmiert worden war. Vielleicht war alles abgedeckt gewesen und erst kurz vor ihrem Fall hatte man die Schutzfolie weggezogen. Wahrscheinlich Caras Job, dachte Lara, denn was sonst hätte sie zu der Vorstellung beitragen können.
    Der Scheinwerfer war mit Marika gewandert und umfasste sie jetzt in gleißendem Licht. Die Haltung der Frau erinnerte Lara an etwas, das sie nicht benennen konnte.
    Wieder setzte Musik ein, aber dieses Mal war es eine einzelne Posaune, deren klagevoller Ton durch die Halle drang.
    In dem Farbenmeer, das Marikas Gesicht darstellte, bewegte sich etwas und dann schlug sie die Augen auf.
    Vorsichtig setzte sie einen Fuß nach vorn, dann löste sich der ganze Körper von der Leinwand und Marika trat einen Schritt zur Seite, damit alle das neu entstandene Gemälde sehen konnten.
    In diesem Moment brauchte Lara nicht länger zu raten, woran sie das Bild erinnerte.
    Marika hatte eine fast perfekte Wiedergabe der Kreuzigung Jesu erschaffen. Der Körper eines geschundenen Mannes hing am Kreuz, die Arme über den Querbalken gespannt, die Füße am Ende des senkrechten Balkens zusammengenagelt. Das müde Haupt mit der Dornenkrone auf die Brust gesenkt, die Augen geschlossen, schien der Gekreuzigte auf sein Ende zu warten, während unablässig Blut aus der Wunde an seiner Seite zu Boden floss.
    In der Halle herrschte Stille. Niemand klatschte oder rührte sich. Marika stand schweigend da. Plötzlich erklang ein Surren und die Leinwand begann, sich langsam um einhundertachtzig Grad zu drehen. Als der Gekreuzigte auf dem Kopf stand, flossen die Farben nach unten und ein neues Bild entstand.
    Dieses Mal formte sich daraus kein Mann.
    Sondern eine Frau.
    Und diese Frau war, trotz aller Abstraktion, eindeutig Marika.
    Der Applaus war ohrenbetäubend und schien nicht enden zu wollen.
     
    Arias und Sanael fühlten, wie Linas starb und ihre Seelen füllten sich mit Trauer. Aus dem Treppenhaus erklang ein Rumpeln. Dann ein zorniges Brüllen. Sanael

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