Die Stadt der Heiligen (German Edition)
können. Oder zumindest zufrieden. Wenn sie nicht insgeheim mehr erwartet hätte.
Sie wurde geachtet, hatte viele Freunde, ein gutes Auskommen. Sicherlich gab es Frauen, die sie beneideten. Doch sie wünschte sich mehr. Was genau, wusste sie gar nicht so recht. Reinold war der Ansicht, sein Eheweib sei einzig zur Erfüllung seines Wohlergehens da, ansonsten hatte sie sich ruhig zu verhalten und sich möglichst in Luft aufzulösen. Hätte er offene Abneigung ihr gegenüber gezeigt, hätte sie sich vielleicht besser distanzieren können. Doch mit seiner absoluten Gleichgültigkeit haderte sie bereits seit ihrer Hochzeitsnacht.
Marysa schloss die Augen und drehte sich auf die Seite. Es war müßig, über Dinge nachzudenken, die sie nicht ändern konnte. Besser war es, endlich Schlaf zu finden, um am Morgen ihren Aufgaben wieder gewachsen zu sein. Der kleine heiße Ball in ihrer Magengrube blieb jedoch.
***
Christophorus lag bequem ausgestreckt auf der schmalen Pritsche in der Besucherzelle, die ihm der Prior des Aachener Dominikanerordens, Bruder Valentin, zugewiesen hatte. Die Kammer war karg, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war; das Essen hatte ihm jedoch vorzüglich gemundet. Das gebratene Geflügel sei die Spende eines wohlhabenden Bürgers gewesen, so Bruder Valentin, der sich wohl verpflichtet gefühlt hatte, Christophorus die Herkunft des üppigen Mahls zu erklären.
Er lächelte. Diese Wirkung seiner kunstfertig gesiegelten Reise- und Legitimationsurkunden machte er sich nun schon seit Jahren zunutze. Stets wurde er mit ausgesuchter Zuvorkommenheit behandelt, sobald bekannt wurde, dass er vom Heiligen Vater höchstpersönlich ausgesandt worden war, den Menschen zum Ablass ihrer Sündenstrafen zu verhelfen.
An den Stundengebeten hatte er inbrünstig teilgenommen und seine Mitbrüder zuletzt bei der Komplet mit seiner wohltönenden Singstimme beeindruckt. Bis zu den Laudes blieben noch zweieinhalb Stunden, und auch da würde er pflichtbewusst seine Gebete sprechen. Bruder Valentin hatte ihn ob der langen Reise, die hinter Christophorus lag, zwar für heute von den Nachtgebeten entbunden, doch er dachte gar nicht daran, sie ausfallen zu lassen. Sein Ruf hatte tadellos zu sein, denn als Ablasskrämer übernahm er ja eine gewisse Vorbildfunktion.
Und je mehr er seine Mitbrüder – und die Menschen in den Straßen und Gassen Aachens – von seinem heiligen und maßvollen Lebenswandel überzeugte, desto unwahrscheinlicher war es, dass sie herausfanden, wer er in Wirklichkeit war.
Die Fensteröffnung seiner Zelle ging auf den Garten des Klosters hinaus, und ein leichter Luftzug trug den süßlich-würzigen Duft von Kräutern zu ihm herein. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Christophorus schloss die Augen und ließ noch einmal die Ereignisse des Tages an seinem inneren Auge vorüberziehen. Nach Aldos Erzählungen hatte er sich dessen Schwester anders vorgestellt. Nicht so beherrscht und abgeklärt. Aldo hatte von ihr immer als einem hübschen, lebensfrohen Mädchen gesprochen. Was er vorgefunden hatte, war eine blasse junge Frau mit einem energischen, vielleicht sogar leicht bitteren Zug um den Mund, gekleidet in ein hässliches Gewand, dessen hellgrüne Farbe ihr Gesicht fahl wirken ließ. Einzig ihr Gesang war wirklich schön zu nennen. Ihre Stimme, glockenhell und klar, hatte diesen gewissen Reiz, der auf direktem Wege das Herz ansprach. Doch wie hatte der alte Knecht, Grimold, gesagt? Sie sang nicht mehr oft. War sie also früher tatsächlich ein fröhliches Mädchen gewesen, so hatte die Ehe offenbar nicht zu ihrem Glück beigetragen.
Nun, das ging ihn schließlich nichts an, und er würde den Teufel tun und sich ungefragt einmischen. Was würde es auch nützen? Sie war sicherlich nicht zur Ehe gezwungen worden und als verheiratete Frau abgesichert und in einem ehrwürdigen Stand.
Aber da war nun einmal sein Versprechen, sich um sie zu kümmern. Und um ihre Mutter. Jolánda Schrenger war noch nicht alt. Laut Aldo hatte sie bei Marysas Geburt erst fünfzehn Jahre gezählt. Die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter war unverkennbar. Jolánda kleidete sich jedoch wesentlich geschmackvoller, wie er fand, und wirkte weder blass noch unscheinbar.
Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit, den beiden beizustehen. Nach dem Fund des toten Gesellen waren noch viele Fragen offen. Er würde sich am Morgen mal ein wenig umhören. Den Dom würde er freilich nicht betreten dürfen. Nicht, solange das Gotteshaus durch den
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