Die Stadt der Heiligen (German Edition)
Mord als entweiht galt.
Christophorus drehte sich auf die Seite und konzentrierte sich auf seinen Atem. Zu den Laudes musste er ausgeruht sein.
***
«Frau Marysa, gebt mir den Korb. Der ist viel zu schwer für Euch.» Grimold, der Marysa auf dem Weg über den Markt begleitete, streckte seine Hand nach dem bereits reich gefüllten Korb aus.
Marysa nickte und übergab ihrem Knecht die tatsächlich schwere Last, da sie an einem Stand mit Leinenhauben ihre Schwägerin Veronika entdeckt hatte. Diese winkte ihr und kam mit sorgenvollem Gesicht auf sie zu.
«Marysa, wie geht es dir?» Veronika drückte sie kurz an sich. «Wir haben das mit Klas gehört. Wie schrecklich! Wisst ihr schon, ob es einen Zeugen gibt, der gesehen hat, wer dem armen Jungen das angetan hat?»
Marysa schüttelte den Kopf. «Nein, leider nicht.» Sie seufzte. «Reinold hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Er war heute Morgen unausstehlich.»
«Ach ja, mein Bruder ist schon an guten Tagen mürrisch wie ein alter Ziegenbock.» Veronika zuckte mit den Schultern. «Aber in diesem Fall kann ich ihn verstehen. Sein bester Geselle – nun ja, sein einziger – ist tot. Ein schwerer Schlag für seine Werkstatt. Ich wünschte, Einhard und ich könnten euch irgendwie beistehen.»
Seufzend setzte sich Marysa wieder in Bewegung; Veronika blieb dicht an ihrer Seite.
«Ihr könnt für kühleres Wetter beten», schlug Marysa vor. «Wenn wir Klas noch viel länger in seiner Kammer aufgebahrt lassen müssen, wird das ganze Haus anfangen zu stinken. Aber die Kanoniker vom Marienstift bestehen darauf, dass erst die Untersuchung abgeschlossen sein muss.»
«Unerhört!» Veronika schüttelte sich. «Könnt ihr euch nicht an den Stadtrat wenden? Den Ratsherren kann es doch nicht recht sein, dass mitten im Sommer eine Leiche nicht beerdigt wird. Damals, als meine Großmutter mitten im Winter gestorben ist und wir sie nicht begraben konnten, weil die Erde auf dem Kirchhof steinhart gefroren war, haben sie uns doch schon zugesetzt. Und jetzt, bei all den Fremden in der Stadt …» Wie zum Beweis mussten sie einer Gruppe Scholaren ausweichen, die sich in einem Gemisch aus Latein und einer hart und rollend klingenden Sprache unterhielten. Dabei rempelte Marysa versehentlich einen schlaksigen Jungen in vielfach geflickten Gewändern an.
«Verzeihung», sagte sie, dann erkannte sie ihn. «Milo! Gut, dass ich dich treffe. Weißt du, wann der Stadtrat seine nächste Sitzung hat?»
«Klar weiß ich das, Frau Marysa.» Grinsend hielt Milo seine Hand auf, als ihn jedoch ihr strafender Blick traf, zog er sie schnell wieder zurück. «Heute Abend um sechs Uhr treffen sie sich im Rathaus. Da braucht Ihr aber nicht hinzugehen, weil sie da den Pfaffen vom Marienstift den neuen Goldschmied vorstellen, der zusammen mit Colyn Beissel, dem Eisenschmied, den Marienschrein öffnen und nach der Heiltumsweisung wieder verschließen soll. Und außerdem sprechen die da auch über Euren toten Gesellen. Äh …» Etwas verlegen zog Milo den Kopf ein. «Die ganze Stadt redet ja schon davon. Denen muss irgendwas einfallen, damit der Bischof den Dom aussegnet oder so, sonst können sie die Kirmes abblasen.» Als ihn erneut ein strenger Blick aus Marysas Augen traf, grinste er. «Nichts für ungut, Frau Marysa. Aber morgen früh ist auch wieder eine Sitzung.»
«Also gut, danke, Milo.» Marysa wandte sich ab, drehte sich jedoch gleich wieder zu ihm um. «Geh nachher zu Balbina und sag ihr, sie soll dir ein Brot und ein Töpfchen Schmalz geben. Aber nimm beides mit nach Hause, hörst du? Wenn ich dich erwische, wie du es mit Jaromir teilst, setzt es was. Deine Familie hat es viel nötiger als er.»
«Ja, Frau Marysa. Danke, Frau Marysa.» Milo verbeugte sich mehrmals linkisch und zog mit einem noch breiteren Grinsen von dannen.
«Du solltest ihn nicht immerzu füttern.» Veronikas Lächeln strafte ihre Worte Lügen. «Sonst frisst er euch irgendwann nochmal die Haare vom Kopf.»
«Dafür weiß er aber immer die neuesten Nachrichten.» Marysa lächelte zurück. «Seine Mutter, die Lise, ist Wäscherin, sein Vater Tagelöhner auf der Baustelle am Dom. Wenn Milo nicht wäre, würden seine Eltern und seine kleine Schwester oft nur Wassersuppe auf den Tisch bekommen.»
«Hast ja recht, ich sag ja auch gar nichts mehr. Die kleine Nese habe ich übrigens neulich mit ihrer Mutter zusammen auf der Bleichwiese gesehen. Wie alt ist das Mädchen jetzt? Acht oder neun Jahre? Sie scheint jetzt auch als
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