Die Stadt der Heiligen (German Edition)
von einem Moment zum anderen in die Rolle des gestrengen Inquisitors geschlüpft. Kaum aber war der Kanoniker wieder gegangen, hatte er sich genauso schnell wieder in den harmlosen Mönch verwandelt, als der er sich bei ihr vorgestellt hatte.
Marysa drehte den Kopf zur Seite und blickte in das flackernde Licht des Lämpchens. Sie würde weiterhin misstrauisch ihm gegenüber bleiben, das stand fest. Solange sie nicht mit Sicherheit wusste, woran sie bei ihm war, würde sie äußerste Vorsicht walten lassen. Am besten wäre es, er würde wieder fortgehen. Und das täte er wohl auch, wenn dieses Versprechen nicht wäre. Also musste sie ihn davon überzeugen, dass es nicht nottat, sich um sie oder ihre Mutter zu kümmern. Immerhin war sie, Marysa, ja bestens versorgt, und Jolánda hatte durch ihre Witwenschaft ebenfalls ein gutes Auskommen und keinerlei ernsthafte Sorgen. Vetter Hartwig würde ihnen auch nicht in die Quere kommen, denn nach Marysas Hochzeit hatte ja nun Reinold die Gewalt über das Erbe.
Bis zum Ende der Heiltumsweisung sollte sie Bruder Christophorus davon überzeugt haben, dass er ohne schlechtes Gewissen seines Weges ziehen konnte. Und überhaupt: Als Ablasskrämer würde er doch sicherlich nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in Aachen ausharren. Um seinen Geschäften nachzugehen, würde er bestimmt ebenfalls weiterziehen wollen.
Marysa nickte vor sich hin. Ja, so würde es kommen. Er konnte ja gerne alle paar Jahre bei ihnen nach dem Rechten sehen. Doch auch wenn er Aldos Freund gewesen war; in ihrem Leben gab es für jemanden wie ihn keinen Platz und auch keine Notwendigkeit.
Beim Gedanken an ihren Bruder fiel ihr Blick auf den noch immer versiegelten Brief, den Christophorus ihr übergeben hatte. Sie nahm ihn von der Truhe und drehte ihn zwischen den Fingern. Und plötzlich steckte ein dicker Kloß in ihrem Hals. Sie schloss die Augen, konnte jedoch nicht verhindern, dass sich eine Träne löste und ihre Wange hinabrann.
Ihr geliebter Bruder hatte sie für immer verlassen. Er war, neben ihrem Vater, der Einzige gewesen, mit dem sie sich über wichtige und komplizierte Dinge hatte unterhalten können. Dinge wie die Einfuhrzölle auf besonders edle Hölzer für Reliquienschreine oder die Beschaffenheit von Heiligenhaar und dessen Konservierung. Aldo wie auch ihr Vater hatten ihr Talent und ihren wachen Verstand gelobt und zu schätzen gewusst. Sie hatten sie nach ihrer Meinung gefragt.
Marysa biss sich auf die Lippen, als ihr einfiel, dass Bruder Christophorus sich ebenfalls ihr Urteil über die gefälschte Reliquie erbeten hatte. Merkwürdig, dass er sich dafür interessierte. Andererseits war es wohl seine Aufgabe als Inquisitor, ihr Fragen zu stellen, und vermutlich hatte er gar nicht erwartet, dass sie ihm eine fundierte Antwort gab. Dass sie es dennoch tat, hatte ihn gewiss erstaunt, jedenfalls hatte er diesen Eindruck auf sie gemacht. Aber das war ja nicht weiter verwunderlich, denn die wenigsten Geistlichen trauten einer Frau auch nur einen Funken Verstand zu. Warum sollte der Dominikaner da eine Ausnahme sein?
Wieder betrachtete sie Aldos Brief. Sie konnte sich einfach nicht durchringen, ihn zu öffnen. Sie befürchtete, die Worte – von seiner Hand in der Gewissheit verfasst, dass er bald sterben würde – könnten ihr mehr Schmerz zufügen, als sie ertrug. Es würden Zeilen des Abschieds sein, Worte, die ihre Trauer noch vertiefen würden.
Wieder blinzelte sie die Tränen fort, dann stand sie auf, stellte das Öllämpchen auf den Boden, öffnete die Truhe und schob den Brief zusammen mit Aldos Pilgermuschel ganz zuunterst in die hinterste Ecke zwischen einige weitere alte Briefe. Sorgfältig ordnete sie den restlichen Inhalt darüber – zwei Bücher, einen kleinen Psalter, Hauben, Bänder, Gürtel und die kunstvoll gearbeitete lederne Geldkatze ihres Vaters sowie noch einige weitere Dinge – und schloss die Truhe dann wieder. Das Lämpchen stellte sie entschlossen darauf, dann kroch sie unter ihre Decke. Sie würde den Brief jetzt nicht lesen, sondern ihn ein paar Tage aufbewahren, bis sie Mut gefasst hatte, ihn zu öffnen. Marysa legte eine Hand auf das Kettchen mit dem silbernen Kruzifix ihres Bruders, das sie nun um den Hals trug. Aldo würde es verstehen. Er hatte immer alles verstanden. Und was immer er ihr auf dem Sterbebett hatte mitteilen wollen, es hatte gewiss noch ein bisschen Zeit.
11. Kapitel
I hr seid also der Ansicht, der Schreinbauer Markwardt sei zu Unrecht
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