Die Stadt der Heiligen (German Edition)
war, kam es der Zunft zu, diese Aufgabe zu übernehmen. Nur bedeutete das auch eine Menge unangenehmer Fragen und Mutmaßungen, denen sie und ihr Gesinde ausgesetzt sein würden.
Doch auch das würde vorbeigehen. Mit etwas Glück würden bald die Männer vom Schöffenkolleg kommen und das Haus durchsuchen. Keine angenehme Vorstellung zwar, aber ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Reinolds Freilassung.
Marysa seufzte, legte den Kamm beiseite und streckte sich auf dem Bett aus. Wären die Aachener nicht so sehr mit der bevorstehenden Kirmes und Heiltumsweisung sowie den damit verbundenen Pilgermassen beschäftigt gewesen, hätte Reinolds Verhaftung schon viel höhere Wellen geschlagen. Bisher war sie noch nicht angesprochen worden, aber sie hatte gesehen, wie Ragna Berscheider, die Frau eines Wollhändlers – ihre Nachbarin von schräg gegenüber –, mit einigen Frauen aus ihrer Straße beisammengestanden und getuschelt hatte.
Ragna war bekannt für ihr loses Mundwerk und ihre Vorliebe für Klatsch und Tratsch, deshalb ging Marysa davon aus, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die ersten üblen Gerüchte sich in den Stuben und Hinterhöfen breitmachten.
Im Augenblick jedoch genoss Marysa die friedliche Stille im Haus. Sie wusste, sie müsste eigentlich ein schlechtes Gewissen deswegen haben, immerhin saß ihr Gemahl in einer ungemütlichen Zelle in der Acht ein, und noch dazu unschuldig. Doch es wollte sich heute Abend kein ungutes Gefühl einstellen. Sie war einfach nur froh, dass es so ruhig im Hause war, da das Gesinde bereits schlief, und dass sie sich ganz alleine auf dem großen Bett entspannen konnte, ohne Reinold damit zu Zudringlichkeiten anzuregen. Sie wusste von ihrer Mutter, dass der Beischlaf unter Eheleuten durchaus angenehm sein, ja sogar Freude bereiten konnte. Doch die anfangs häufigen, inzwischen allerdings immer seltener werdenden Bestrebungen ihres Gemahls, ihr das Zusammensein mit ihm angenehm zu machen, waren einer gelangweilten Routine gewichen. Reinold war von Anfang an nicht in der Lage gewesen, Marysa in irgendeiner Form Freude oder gar Lust zu bereiten. Inzwischen hielt er sie wohl für ein gefühlskaltes Frauenzimmer, das er nur der Pflicht halber noch aufsuchte oder aber, weil er seine eigenen Bedürfnisse rasch befriedigen wollte.
Marysa war sich sicher, dass er heimlich ein Dirnenhaus aufsuchte, doch es war ihr gleich. Nicht einmal ihr Stolz war gekränkt, denn es schien ihr besser, er lebte seine Gelüste dort aus, als dass er sie ihr weiterhin aufzwang. Abgesehen davon hatte sie herausgefunden, dass er dralle blonde Frauen bevorzugte. Sie selbst entsprach also mit ihren kastanienbraunen Locken und der grazilen Gestalt, die sie ihrer Mutter zu verdanken hatte, ganz und gar nicht seiner Vorstellung von einer anziehenden Geliebten.
Jetzt, da er nicht da war, hatte sie endlich einmal ihre Ruhe. Ärgerlicherweise begannen ihre Gedanken nun ausgerechnet um einen anderen Mann zu kreisen.
Sie konnte noch immer nicht ganz begreifen, dass Bruder Christophorus ein Inquisitor sein sollte. Er entsprach so gar nicht ihren Vorstellungen von einem Richter, der Ketzer aburteilte. Andererseits war sie auch noch niemals mit der Heiligen Inquisition in Berührung gekommen, hatte also auch keinen Vergleich.
Ob Aldo davon gewusst hatte? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Niemals hätte er auch nur ein Wort mit dem Dominikaner gewechselt, hätte er von dessen Stellung gewusst. Auf der anderen Seite hatte Bruder Christophorus Aldos unnatürliche Vorliebe für Männer gedeckt, ja ihm sogar geholfen, diese zu vertuschen.
Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Er war kein verbitterter Fanatiker; aber genau das hatte sie von einem Inquisitor erwartet. Vielmehr hatte Bruder Christophorus sich als ein höflicher und gescheiter Mann erwiesen, der, wie es schien, sehr viel auf sein einmal gegebenes Ehrenwort hielt. Leiden konnte sie ihn dennoch nicht, schon allein, weil er mit Ablassbriefen handelte. Außerdem entsprach er in seiner Eigenschaft als Geistlicher nicht ihren Vorstellungen. Wenn er sprach, hatte sie oft das Gefühl, er mache sich über etwas lustig, vielleicht sogar über sie. Und für einen Dominikaner schien er ihr auch zu fröhlich; er hatte etwas Schalkhaftes an sich, das der Demut, in der er sich doch wohl üben müsste, vollkommen widersprach. Dieser Eindruck hatte sich während ihres Aufenthalts im Dom geformt. Bruder Christophorus war in Gegenwart des Domherrn Scheiffart
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