Die Stadt der Heiligen (German Edition)
bitten wir Maria, die Mutter Gottes …» Hier trug der Ausrufer noch einige Fürbitten vor, um danach abzuwarten, bis der Dechant das Kleid Mariens wieder zusammengefaltet und über die Stangen gehängt hatte. Als Nächstes wurden die Windeln Jesu sowie das Enthauptungstuch Johannes des Täufers auf exakt die gleiche Weise den Gläubigen präsentiert. Und jede der Reliquien wurde von den Pilgern mit lautem Getöse und Hörnerschall begrüßt. Den Abschluss bildete die Zeigung des Lendentuchs Jesu, und während die Gläubigen noch ein Paternoster und ein Ave-Maria anstimmten und danach den Segen empfingen, zogen die Kanoniker bereits ein Stückchen weiter auf der Galerie, um dort die Weisung erneut durchzuführen. Fünfmal hintereinander würden die Heiltümer dem Volke auf diese Weise in allen Richtungen des Oktogons gezeigt werden.
Christophorus stand wieder auf und klopfte sich den Staub von der Kutte. Er war sich sicher, noch niemals ein beeindruckenderes Schauspiel erlebt zu haben. Und obwohl er einigen Lehren der Heiligen Mutter Kirche durchaus kritisch gegenüberstand, fühlte er sich im Augenblick tief durchdrungen von echter und wahrhaftiger Frömmigkeit.
Das Gefühl schwand jedoch schneller, als ihm lieb war, da er plötzlich eine helle weibliche Stimme seinen Namen rufen hörte. Er drehte sich nach der Rufenden um und taumelte zurück, als diese wie ein Wirbelwind auf ihn zugeschossen kam und ihm um den Hals fiel.
«Da bist du ja, Christophorus! Ich habe schon überall nach dir Ausschau gehalten», rief Estella, die zierliche Akrobatin aus der Gauklertruppe. Sie strahlte ihn an. «Warum bist du nicht schon längst bei uns vorbeigekommen? Du weißt doch, wo unser Lager ist. Vor dem Ponttor, gleich neben …»
«Guten Tag, Estella», unterbrach Christophorus ihren begeisterten Wortschwall und schob sie ein Stückchen von sich. Glücklicherweise achtete im Augenblick niemand auf ihn, da die meisten Pilger dem Dom zustrebten, um noch einen weiteren Blick auf die Reliquien zu erhaschen. Er lächelte ihr zu. «Du weißt doch, dass ich mich im Haus meines Ordens aufhalte und hier in der Stadt eine Aufgabe zu erfüllen habe.»
Sie lachte und winkte ab. «Natürlich weiß ich das. Aber ich habe auch gehört, dass du nicht den ganzen Tag durch die Stadt wanderst und Ablassbriefe verkaufst. Meine Leute haben dich schon in verschiedenen Tavernen und einmal bei einem Barbier gesehen. Wenn du für so was Zeit hast, kannst du uns ebenso gut einmal besuchen kommen. Mutters Essen schmeckt so gut wie das in den hiesigen Wirtshäusern – wenn nicht sogar besser. Und bei uns kriegst du wenigstens jederzeit einen Sitzplatz.» Sie zwinkerte ihm zu.
Ihr Lachen war ansteckend und der Blick aus ihren Augen, deren Schwärze nur von der ihres Haars übertroffen wurde, einladend und verführerisch. «Versprich mir, uns bald zu besuchen», sagte sie nun wesentlich leiser. «Du weißt, wie sehr du uns – mir – willkommen bist.»
Christophorus strich ihr sanft über die sonnengebräunte Wange. «Das weiß ich ganz gewiss, Estella. Ich werde kommen, sobald es mir möglich ist. Aber nun solltest du zurück zu deiner Truppe gehen.»
Sie nickte und lachte wieder, diesmal jedoch schwang etwas Wehmütiges darin mit. «Ich soll dich wohl nicht ins Gerede bringen, was? Nein, ist schon gut, du hast ja recht. Wenn du mir nur versprichst zu kommen. Ich muss jetzt sowieso wieder zu meinen Leuten. Manon wird schon nach mir Ausschau halten.»
Christophorus zog seine Hand zurück, doch dann zeichnete er ihr mit einem Seitenblick auf die umstehenden Menschen vorsichtshalber noch mit dem Daumen ein Kreuzzeichen auf die Stirn. «Gott schütze dich, Estella», sagte er, wandte sich ab und ging davon.
Auf dem Weg in die Jakobstraße kam er in der Nähe der Stelle vorbei, an der Estellas Truppe ihre kleine Bühne aufgebaut hatte. Das Dröhnen der kleinen Trommel und das Klingeln der Schellen waren ihm nach der langen gemeinsamen Reise wohl vertraut. Er würde die Art, in der diese Gaukler musizierten oder die Menschen auf sich aufmerksam machten, unter Hunderten wiedererkennen. Dennoch blieb er nicht stehen, sondern drängte sich zielstrebig weiter durch die Menschenmassen. Erst in der Nähe des Dominikanerklosters lichtete sich die Menge allmählich, und nur aus diesem Grunde bemerkte er den alten Pilger – Amalrich, wenn er sich recht erinnerte. Der Alte hockte in einem der Hauseingänge und hatte offenbar auf ihn gewartet, denn als er
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